Podcast Sternenglanz St.Gallen

Lesedauer: 4 Minuten

#29 «Mal ehrlich»

Für einmal bin ich ganz froh, dass ich Carsten in den letzten beiden Wochen nicht begegnet bin. Obschon es mich brennend interessiert hätte, zu erleben, wie das ist, mit Carsten Zeit zu verbringen, wenn er sich vorgenommen hat, nicht mehr nett zu sein. Carsten hat in der letzten Podcast-Folge den Vorsatz für die Fastenzeit gefasst: Nimmer nett zu sein.

Höre diesen Text als Podcast:


Carsten, bitte erzähl bei deinem nächsten Podcast mehr davon: Wie war das? Was ist aus deinem Experiment geworden? Ist es dir gelungen, nicht mehr so nett zu sein? Und wenn ja: was daran findest du (nicht) gut?

Ich muss ehrlich sagen, im ersten Moment konnte ich diesem Impuls von Carsten nicht viel abgewinnen.

Wenn Fastenvorsatz, dann konstruktiv, finde ich!


Entweder, ich verzichte auf etwas Bestimmtes – Alkohol, Süsses, Kaffee – oder ich mache etwas Gutes, Spirituelles, Sinnvolles:

  • Ich gehe jede an Tag an die frische Luft.
  • Ich meditiere.
  • Ich schreibe auf, wofür ich dankbar bin.
  • Ich rufe Freundinnen an, die ich in den letzten fünf Jahren vernachlässigt habe.
  • Oder ich kaufe Essen ohne Plastikverpackung.

Aber nicht mehr nett sein – das soll ein Fastenvorsatz sein?

Es erinnert mich an ein Buch, das mir vor kurzem jemand empfohlen hat mit dem Titel «Am Arsch vorbei geht auch ein Weg» ↗. Und ich frage mich ernsthaft: Ist das konstruktiv, wenn wir allen überlasteten und frustrierten Menschen – sorry Carsten – raten, mehr Schwein zu sein und an sich zu denken?

Ehrlich gesagt kann ich es kaum mehr hören: «Grenz dich ab» – «Schau zu dir selbst!» «Sag nein» , «Sei nicht immer so nett!»


Warum? Ich bin gerne nett. Und ich wünsche mir, dass anderen nett sind zu mir. Ich möchte in einer Welt leben, in der Menschen liebevoll miteinander umgehen. Und dafür möchte ich ein Vorbild sein. PUNKT.

Ehrlich?

Vor Kurzem habe ich in einem Gottesdienst über das Thema «Lügen» nachgedacht. Und bei meinen Recherchen habe ich herausgefunden:

Menschen lügen was das Zeugs hält. Jeden Tag. Unglaublich! Nicht im grossen Stil und oft auch nicht schlimm.

Aber beim Schönreden, Ausreden-Benützen, Geschichten-Ergänzen, Dramatisieren, Verharmlosen… nehmen wir es oft nicht ganz so genau mit der Wahrheit.

Lügen oder Schummeln lernen wir schon ganz früh. Babys können das nicht, genauso wie Tiere nicht lügen können. Aber mit etwa vier Jahren lernt ein Kind, dass es auch sagen kann «Ich hab die Zähne geputzt», wenn es gar nicht so ist.

Schon Kinder lernen früh, nicht ganz ehrlich zu sein und im Zweifelsfall zu einer Notlüge zu greifen. So wie Pinocchio.


Und wenn ich darüber nachdenke, hat das Lügen vielleicht mehr mit dem «nett sein» zu tun, als mir lieb ist.

  • Mein lächelndes «Schön dich zu sehen!», wenn ich mir grad gewünscht hätte, für einen Moment allein zu sein.
  • Mein fröhliches «Wow, schöne Frisur!», wenn jemand die Haare kurz geschnitten hat und ich innerlich finde, «Wie schade!».
  • Oder mein feiges «Ich habe mich so auf heute Abend gefreut und leider habe ich jetzt Kopfschmerzen», wenn ich einfach nur schlafen will – oder einen anderen Termin vergessen habe.

Ich glaube, dass wir oft lügen, um «nett» zu sein. Um andere nicht zu verletzen. Beziehungen nicht zu gefährden. Oder um gut dazustehen.

Will ich ehrlich sein oder lieber zu einer Notlüge greifen? Das fragt sich Kathrin Bolt in der aktuellen Sternenglanz-Podcastfolge.

Ein neuer Vorsatz: Ich bin ehrlich

Insofern frage ich mich, ob wir Carstens Fastenvorsatz umbenennen könnten in: «Ich bin mal ganz ehrlich. Ich mache anderen und mir in diesen Tagen nichts vor.»

Das scheint mir ein hochanspruchsvoller, aber auch sinnvoller Fastenvorsatz zu sein, der vieles verändern könnte. Stell dir vor…

  • Stell dir vor, wenn du einfach ehrlich zeigst, wie es dir geht: ob du grade Freude hast oder nicht. Oder ob du magst oder nicht.
  • Stell dir vor, du bist einfach du selbst und bist nett, weil du es nett meinst. Und nimmer nett, wenn es dir einfach nicht danach ist, unserer perfekten, leistungsorientierten Welt vorzugaukeln: «Alles bestens, mir geht’s gut. Ich freu mich, dich zu sehen. Ich hab alles im Griff»
  • Stell dir vor, du kannst einfach sagen: «Heute habe ich keine Lust auf Smalltalk. Willst du wissen, wie es mir wirklich geht? Oder wünschen wir uns einfach einen guten Tag und auseinander gehen?»

Wenn ich ehrlich bin, weiss ich noch gar nicht genau, wie ich das gut umsetzen kann: ehrlich zu sein. Denn ich würde von mir behaupten, dass ich sehr selten bewusst lüge. Ich habe keinen Lover im Kleiderschrank versteckt und hinterziehe auch keine Steuern. Ich schaffe es ja nicht mal, bei Rot über die Strasse zu gehen, wenn kein Auto kommt.

Aber ich verstelle mich manchmal, passe mich an, spiele etwas vor. Und es nimmt mich Wunder, was passiert, wenn ich versuche, das zu ändern.

Konkret heisst das:

  • Ich verteile nur noch Komplimente, die ich ganz und gar ernst meine und nicht solche, die einfach gute Stimmung machen sollen.
  • Ich antworte intuitiv und ehrlich, wenn jemand fragt: «Wie geht es dir?»
  • Und – das ist vielleicht der wichtigste Punkt: Wenn ich über andere Personen spreche, dann sage ich alle Dinge so, wie ich sie ihnen auch persönlich ins Gesicht sagen würde. Oder besser noch: Ich mache das dann auch.

Ob ich das schaffe?  
Da bin ich mir nicht sicher.
Probierst du es auch aus?

Ich bin mir sicher, dass es eine spannende Zeit für mich wird, weil ich genauer überlege, wann ich was warum sage.
Und vielleicht werde ich mich selbst dabei ertappe, wenn ich merke «Hoppla, Kathrin, jetzt hast du aber ganz schön übertrieben. Oder andern Honig ums Maul gestrichen.»

Ich bin gespannt auf den nächsten Podcast von Carsten und seine Erfahrungen mit dem «Nicht mehr nett sein». Und darauf, ob Carsten meine Einschätzung teilt, dass «nett sein» und «einander etwas vormachen» – oder eben sogar lügen – nicht selten nahe beieinander liegen.

Den nächsten Podcast mit Carsten hörst du am 28. März. Bis dahin, mach`s gut und schau gut zu dir.

Portrait Kathrin Bolt

Kathrin Bolt

Kathrin schreibt und spricht leidenschaftlich gerne. Die 43-Jährige lebt mit ihrer Familie in St.Gallen und arbeitet als Pfarrerin in der evangelisch-reformierten Laurenzenkirche. In ihrer Freizeit spielt sie Theater.