Podcast Sternenglanz St.Gallen

Lesedauer: 6 Minuten

#38 Das Meer der Möglichkeiten

Kathrin schrieb kürzlich vom Changemanagement, und ich las Chancemanagement ‒ ein kleiner Schreibfehler, bloss ein Buchstabe. Und dennoch habe ich lange gebraucht, um zu merken, dass es da einen Unterschied gibt:

  • Kathrin ging es um Changemanagement, also die Frage: «Wie organisiere ich mich gut in Zeiten grosser Veränderung?»
  • Heute geht es mir um Chancenmanagement: «Wie gut erkenne ich Chancen? Wie nutze ich meine Möglichkeiten?»

Dazu schreibe ich heute über drei Punkte:

  1. Was kann es konkret heissen, mehr Möglichkeiten zu sehen?
  2. Ein biblisches Beispiel, wo Jesus seinen Jünger:innen eine schier göttliche Möglichkeit bietet
  3. Was hilft mir, meine Chancen zu sehen und zu ergreifen?

Höre diesen Text als Podcast:

1. Was bedeutet es, Möglichkeiten zu sehen?

Chancen tauchen in Veränderungen auf. Es ist kein Zufall, dass Risikomanagement und Chancenmanagement meist zusammen daherkommen.

Das Risikomanagement fragt: «Was könnten wir verlieren?» Das Chancenmanagement hingegen fragt in der gleichen Situation: «Was können wir gewinnen?»

Ich mag lieber gewinnen als verlieren. Ich möchte lieber positiv eingestellt unterwegs sein als bloss negativ, lieber optimistisch nach vorne schauen als Vergangenem hinterherweinen.

Wo erlebe ich das bereits und nehme Positives wahr, obwohl sich so viel verändert?

Wenn Kinder erwachsen werden

Gestern Abend habe ich mit einem anderen Vater oben auf dem Dach ein paar Stahlträger abmontiert. Und während wir diese Stahlträger im Regen abseilen, unterhalten wir uns über unsere Kinder, wie die aufgewachsen sind, wie sie langsam ziemlich gross und erwachsen geworden sind… und wie wir bei all den verbleibenden Sorgen doch zufrieden und vor allem dankbar sind, wie sie ihren Weg gehen. Was hat man in früheren Jahren nicht alles wegen der Kinder durchgemacht! Langsam, aber sicher freuen wir uns über all das Positive, Tolle, wie sie sich verändert haben. Das Gewicht der Stahlträger und den Regen haben wir bei unserem Gespräch kaum bemerkt.

Wenn Menschen bewusste Entscheidungen treffen

Anderes Beispiel: Anfang Sommer habe ich mehrere Kinder getauft; das gehört mit zu den Aufgaben, die ich als Diakon gelegentlich wahrnehme. Diesmal war interessant, dass die Kinder bereits ein, zwei oder gar schon vier Jahre alt waren. Jetzt könnte ich kritisch meinen: «Das wurde langsam auch mal Zeit.»

Ich kann aber auch das Positive darin sehen: Diese Eltern haben die Entscheidung, ihr Kind jetzt taufen zu lassen, sehr bewusst gefällt. Je mehr Taufe an Selbstverständlichkeit verliert, desto mehr hat die bewusste Entscheidung dafür eine echte Chance.

Wenn Digitalisierung vieles verändert

Anderes Beispiel: Letzte Woche habe ich ein Buch über Digitalisierung gelesen. Die Statistik lügt nicht, wenn sie feststellt, dass manche Betriebe in Sachen Digitalisierung ziemlich langsam sind. Die Skepsis ist zuweilen recht gross, was das bringt, wohin das führt, und ob der Datenschutz wirklich klappt.

Deutlich seltener taucht da die Zuversicht auf im Blickfeld auf, welche Chancen die Digitalisierung auch bringt, welche Möglichkeiten sich eben eröffnen, welche Türen da offenstehen. Viele Chancen wurden dort nicht genutzt, manche schon.

Wenn der Religionsunterricht am Prüfstand steht

Letztes Beispiel: Mancherorts kommt der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen auf den Prüfstand. Die ersten Reaktionen der Kirche sind meist eher verteidigend: Es war doch gut, alles soll so bleiben wie es ist. Da fehlt mir die Perspektive, ob es nicht auch eine Chance sein könnte.

Die Kirchen haben verschiedene Möglichkeiten, um ihre Religion zu unterrichten. Viele Wege führen zum Ziel, und manchmal sind neue Wege besser.

Für manche Chancen wie bei den Kindern kann man viel dazu tun.

  • Manche Chancen tauchen im Wandel der Zeit einfach auf.
  • Manche ziehen unbesehen vorbei.
  • Manche Veränderung zwingt dazu, nach neuen Möglichkeiten Ausschau zu halten.

In all diesen Veränderungen sehe ich Risiken. Aber ich ringe lieber um eine Haltung, all die verschiedenen neuen Möglichkeiten, die sich auftun, anzuschauen und abzuwägen. Ich möchte offen sehen, möchte neue Potentiale entdecken, möchte Möglichkeiten sehen, eben die Chance, es könnte besser werden.

2. Was passiert, wenn Jesus zur Nachfolge ruft?

Lange Zeit habe ich mich gewundert, wie es hat sein können, dass Jesus damals Jünger:innen ruft, einfach so mit «Komm, folge mir nach, hinter mich!», und er findet Leute, die dann tatsächlich mitkommen.

Ich hatte immer den Verdacht, dass die biblische Erzählung ein paar Details auslässt. Vielleicht haben die Jünger Jesus längst gekannt, bei jugendlichen Streichen in Nazareth etwa. Vielleicht kannten sie Jesus als jungen Mann in Kafarnaum. Wer weiss das schon, vielleicht haben sie sich früher oft getroffen, in der Dorfkneipe oder beim Joggen rund um den See Genezareth.

Aber einfach so spontan mitzugehen? Einfach so einem dahergelaufenen Wanderprediger hinterherzulaufen und dafür alles aufzugeben, was ich mir bis dahin aufgebaut habe?

Irgendwann legte mir meine Frau einen Artikel aus einer theologischen Zeitschrift auf den Tisch. Es ging um die Art und Weise, wie ein Rabbi damals Schüler aufforderte, bei ihm in die Lehre zu gehen. Da wurden junge Leute gerufen, die bereits ein Ansehen besassen, die Finanzen besassen, oder doch zumindest ihre Eltern.

Kein Rabbi hätte einfache Leute angesprochen, keine Arbeiter, keine Bildungsfernen, keine Fischer. Keiner, bis auf Jesus.

Wenn du nie im Leben damit rechnen kannst, dass dir jemand diese Chance gibt, dann überlegst du nicht lange, wenn jemand vorbeikommt und zu dir sagt: «Folge mir nach!» Dann denkst du nicht nach, was du alles verlieren könntest.

Du denkst nur noch daran, was du alles gewinnen kannst, wenn du bei diesem Rabbi Jesus in die Schule gehst. Dann ist Nachfolge eine geradezu göttliche Möglichkeit, alles zu gewinnen, völlig überraschend, nicht zu erwarten, unverdient und ziemlich spannend.

Berufung des Matthäus ↗, Caravaggio, San Luigi dei Francesi, Rom

Es braucht dafür diesen Perspektivenwechsel, weg von der Angst, was ich alles verlieren könnte, hin zur freudigen Anspannung, was ich alles gewinnen könnte.

3. Was hilft mir, Chancen zu sehen und zu ergreifen?

Seitdem mir klar wurde, dass Nachfolge für die Jünger:innen Jesu vielleicht eher ein Segen statt einer Zumutung gewesen ist, frage ich mich, was denn hilft, Chancen zu sehen und zu ergreifen. Was hilft mir, den Blick mal von den Risiken abzuwenden, und nach neuen Möglichkeiten Ausschau zu halten?

Vielleicht gibt es eine dritte Option C, oder es besteht die Chance, beide Möglichkeiten zu nutzen, statt einem Entweder-oder also ein Sowohl-als-auch. Ich sehe Chancen, wenn ich sie sehen will.

Wenn ich mir vorstelle, ich sitze in einer Runde, und wir sollen uns entscheiden zwischen Option A und Option B. Ich stell mir vor, niemand in der Runde ist mit der Entscheidung richtig zufrieden, oder man findet in der Diskussion darum keinen gemeinsamen Nenner. Das tut es gut, mehr Optionen, mehr Möglichkeiten ins Auge zu fassen als bloss A oder B.

Vielleicht gibt es eine dritte Option C, oder es besteht die Chance, beide Möglichkeiten zu nutzen, statt einem Entweder-oder also ein Sowohl-als-auch. Ich sehe Chancen, wenn ich sie sehen will.

Ich stelle mir vor, ich sitze in einer Runde, und wir reden darüber, wie die Situation immer schlechter und schwieriger wird. Wir jammern bloss. Kein Licht am Ende des Tunnels. Da versacke ich im Sumpf von Verzweiflung und Orientierungslosigkeit.

Raus aus dem Jammertal

Und dann stelle ich mir vor: Ich stehe auf, verlasse diese Runde und suche mir eine Runde mit anderen Menschen, die Optimismus und Kreativität versprühen. Chancen werden aus der Not heraus geboren, aber sie wachsen gerne aus der Not heraus.

Ich habe herumgefragt, was Menschen hilft, ihre Chancen zu sehen und zu ergreifen:

  • Manchmal hilft es in der Tat, den Blick zu weiten oder das Feld zu wechseln.
  • Es helfen Spontaneität und Flexibilität.
  • Es braucht Agilität und den Willen, die Dinge wirklich zu tun.
  • Manchmal braucht es Mut und die Intuition, zur richtigen Zeit das Richtige zu tun.

Kennst Du diesen Spruch, dass Gott, wenn er/sie eine Tür im Leben schliesst, an anderer Stelle eine neue Tür öffnet? Vielleicht braucht es einfach diese gesunde Portion Neugierde, um die neu sich öffnenden Türen zu sehen, damit ich meine Chance nutze.

Und wenn du verstehst, dass der Kompass dir nicht die eine Richtung angibt, in die du segeln sollst, sondern dir bloss Orientierung gibt, um jede Richtung ringsum einschlagen zu können, dann begreifst du, dass du dich auf einem Meer von sehr vielen Möglichkeiten bewegst.
Chancenmanagement ist so, als wäre man auf einem Meer voller Möglichkeiten unterwegs. Foto von Heidi Fin ↗ auf Unsplash ↗

Das Meer

Chancenmanagement stelle ich mir also so vor, als wäre ich auf einem grossen Ozean unterwegs mit einem Schiff. Ich mache mir Sorgen, wenn das Schiff alt und verbraucht ist. Aber eigentlich ist alles da, um die Lecks zu stopfen, die Segel zu hissen und sich endlich ans Steuer zu stellen. Du musst einfach dein Handwerk kennen, die Karten lesen, dich vom Glanz der Sterne über dir inspirieren lassen.

Und wenn du verstehst, dass der Kompass dir nicht die eine Richtung angibt, in die du segeln sollst, sondern dir bloss Orientierung gibt, um jede Richtung ringsum einschlagen zu können, dann begreifst du, dass du dich auf einem Meer von sehr vielen Möglichkeiten bewegst.

Ich wünsche dir gute Reise!

Am 1.August machen wir eine Sommerpause. Unsere nächste Podcastfolge auf diesem Kanal hörst Du hier am 15. August, dann wieder mit mir!

Dir alles Gute & Gottes Segen!

Portrait Carstel Wolfers

Carsten
Wolfers

Carsten Wolfers ist leidenschaftlicher Podcaster und Hobby-Musiker. Der 51-Jährige lebt mit seiner Familie im Rheintal und arbeitet als Diakon für die römisch-katholische Kirche in Sevelen. In seiner Freizeit philosophiert er gerne über die grossen Fragen des Lebens.