Podcast Sternenglanz St.Gallen

Lesedauer: 5 Minuten

#8 Offenes Fenster: Wo ich mir Rat hole

Kathrins Wut fordert meine Skepsis heraus. Ich teile ihre Wut über ungerechten Umgang mit Frauen in Gesellschaft wie Kirche. Aber dass Kathrin das mit dieser mittelalterheiligen Einsiedlerin namens Wiborada verbindet?

Wenn du von dieser mittelalterlichen Einsiedlerin Wiborada noch nie etwas gehört hast, hör mal in die vorige Folge rein, Kathrin erzählt da viel davon.

Etwas zu tun für eine Kirche mit den Frauen, das spricht mich an. Aber eine mittelalterliche heilige Frau wieder ins Bewusstsein zu rufen, um unser heutiges Bewusstsein zu verändern, da bleibe ich skeptisch.

Höre diesen Text als Podcast:

Kathrin verbindet Wut und Wiborada ↗ miteinander, und das fordert mich heraus, meine Meinung zu überprüfen. Also gehe ich da nochmals über die Bücher. Ich mache das, indem ich mir etwas heraussuche, was mein Interesse an dieser alten Dame weckt, und dann schaue ich mal, was ich heute damit anfangen kann.

Coaching to go

Es gibt in der Tat eine Sache, die fasziniert mich an dieser Frau eben doch. Sie lebte eingeschlossen in einer kleinen Zelle bei der Kirche St. Mangen, mitten in der Stadt. Diese Mini-Wohnung hatte ein Fenster nach draussen.

Ein Fenster führte von ihrer Zelle nach draussen. Dort bot Wiboarada coaching to go an.

Und dieses Fenster war nicht nur dafür da, dass man ihr etwas Nahrung hineinreichte oder dass sie ihren Nachttopf herausreichte. Vielmehr wird berichtet, dass viele Menschen sie an diesem Fenster besuchten, um sich von ihr einen Rat zu holen.

Normale Menschen, Adelige der Stadt, ja auch die Mönche des Klosters St. Gallen kamen bei Wiborada vorbei. Hier gab es «coaching to go».

Dieses offene Fenster fasziniert mich, wo jede:r einfach so vorbeigehen kann. Da kann ich ausprobieren, ob der Mensch hinter dem Fenster mir wirklich helfen kann. Dort ist jemand da, der mir einfach zuhört: egal, ob ich nur gelegentlich da vorbeischlendere oder ob ich ein Problem mit mir herumtrage, dessen Lösung ich nicht allein finde. Da ist eine Stelle, für jede:n offen, wo ich mir einen Rat abholen kann.

Welche Fenster sind für mich offen?
5 Beispiele

Was sind für mich denn offene Fenster, wo ich gelegentlich mal vorbeigehe, wenn ich einen Rat, etwas Unterstützung, eine alltagstaugliche Weisheit suche? Ich habe eigentlich verschiedene offene Fenster:

1. Freunde

Die kennen mich. Die wollen nichts von mir. Die freuen sich einfach über die gemeinsame Zeit. Freunde sind zueinander eigentlich immer positiv. Das macht Freundschaft aus. An dieser Fensterbank können wir gut auf Augenhöhe miteinander reden.

2. Familie

Meine Familie kennt mich ziemlich gut. Meistens sind wir positiv zueinander. Wir teilen unser Leben miteinander und leben eng zusammen, da müssen wir uns gelegentlich den Kopf geradesetzen.

3. Berufskolleg:innen

Wenn ich bei einer Arbeit nicht so recht weiterkomme, dann hole ich mir einen Rat bei einer Kolleg:in. Kolleg:innen kennen sich meist nicht so persönlich, haben aber in der Sache mehr Ahnung. Da ist das Fenster meist eher die offene Bürotür, an der ich auf dem Weg zwischen Arbeitsraum und Teeküche vorbeikomme. Oder ein Telefonat.

4. Supervision/Exerzitien/geistliche Begleitung

(Anm.: Exerzitien sind spirituelle Übungstage)
Ich suche mir jemanden, dem ich zutraue, mich ein Stück weiter zu führen. In diesen Formen von Beratung muss man mich gar nicht so genau kennen, es braucht einfach eine Expertise in diesem einen spezifischen Lebensbereich.

Das wäre also eine Person, die nicht mit mir die Täler des Alltags durchschreitet, sondern die eher oben auf einem Gipfel steht und den spirituellen Überblick besitzt. Dafür wähle ich jemanden, der mir voraus ist, dessen Erfahrung grösser ist als meine. Ich muss mich ein gutes Stück öffnen und erzählen, was mich herausfordert, was mir Probleme bereitet, wo ich auf der Suche bin, was ich so mit mir herumtrage.

Und dann höre ich zu und hoffe, dass ich mich jemandem anvertraut habe, der mir mehr zutraut.

Wenn ich zurückblicke, dann gibt es da eine ganze Reihe von Menschen, die mir in bestimmten Lebenssituationen geholfen haben. Das waren regelrechte Sitzungen, manchmal ausgedehnte Spaziergänge, gelegentlich das richtige Wort zur richtigen Zeit. Mit Dankbarkeit kann ich mich vor vielen diesen Begleiter:innen verneigen. Sie haben mich geprägt. Sie haben mich begleitet. Sie haben mich hier und da vor Schlimmerem gerettet. Manche tun es heute noch.

Mehr über geistliche Begleitung erfährst du hier. ↗

Wenn ich vorausblicke, dann bin ich auch ratlos, an wen ich mich wenden kann.

Ich brauche etwas Zeit und Gelegenheiten, um jemanden kennenzulernen, um diesem Menschen zu vertrauen. Ich öffne mich nur langsam. Und manchmal entdecke ich irgendwo ein Fenster dafür.

5.Gebet

Jederzeit geöffnet kann ich an diesem offenen Fenster vorbeigehen, mein Zeug und meinen Ballast abladen. Im Gebet stelle ich mir beziehungsweise Gott oftmals die Frage, wo und wie es weitergeht, wo und wie ich erkennen kann, was dieser Gott will. Ich stelle mir vor, dass Gott dabei wohlwollend schweigt. Ich stelle mir vor, dass ich einräume, bereits zu wissen, was mit Liebe, Frieden, Hoffnung in der Tat zu tun ist. Ich ahne, dass Gott mir eigentlich bloss sagt: «Jetzt! Tu es!» Damit gehe ich gestärkt und genährt weiter.

«Man fragt den anderen nicht um Rat, weil man nicht weiss, was man tun soll»

All diese Fenster sind ganz verschieden, so verschieden, wie meine kleinen und grossen menschlichen Probleme. Ich wähle aus, jemanden, der mir voraus ist. Das erfordert von mir die Demut, dass ich eben nicht überall vorne stehe, also eine Frage der Klugheit und der Selbsterkenntnis.

So ein Fenster mir zu suchen meint, dass ich mir nicht all meine blinden Flecken anschaue, dass ich die super Lösung präsentiert bekomme. Es ist meist eher Ermutigung zu tun, was ich ohnehin schon ahne.

Der Dichter Jean Paul sagt einmal:

«Man fragt den anderen nicht um Rat, weil man nicht weiss, was man tun soll, sondern weil man es weiss, aber ungern tut und vom Ratgeber eine Hilfe für die Leiden der Neigung erwartet.»

Jean Paul

Anders gesagt: Ich brauche manchmal diese Sicht, wie ich anders handeln könnte, und diesen Anschub, dass ich nun anders handeln kann. Das tut mir richtig gut. Wenn ich frage, dann will ich hören, was ich eigentlich nicht hören will, aber was ich endlich hören sollte. Wenn ich mir Rat hole, dann will ich nicht hören, dass ich bleiben soll, sondern dass ich werden kann.

Solche Fenster sind verschieden, sind ermutigend und helfend. Sie stehen mir offen.

Zweimal am Tag – nach dem Mittag und am frühen Abend – öffnen die Inklusen das Fenster zur Aussenwelt.

Ein Ort? Ein Mensch.

Wenn ich es mir recht überlege, geht es dann nicht um ein Fenster irgendwo, sondern um den Menschen, der dort für mich offen ist. Egal, ob ich einen solchen Menschen im Supermarkt finde oder in der Kirche: Hauptsache, dieser Mensch hört mir in meinen verschiedenen Lebensfragen zu, Hauptsache dieser Mensch ist ermutigend, helfend, einfach offen wie jenes Fenster.

Und du? Wenn du überlegst, welcher Mensch für dich wie ein offenes Fenster ist, wer kommt dir da zuerst in den Sinn?

Der nächste glänzende Beitrag für deinen Sternenhimmel erscheint am 8. Juni, dann wieder mit Kathrin.

Dir alles Gute – und Gottes Segen!

Portrait Carstel Wolfers

Carsten
Wolfers

Carsten Wolfers ist leidenschaftlicher Podcaster und Hobby-Musiker. Der 50-Jährige lebt mit seiner Familie im Rheintal und arbeitet als Diakon für die römisch-katholische Kirche in Sevelen. In seiner Freizeit philosophiert er gerne über die grossen Fragen des Lebens.