Podcast Sternenglanz St.Gallen

Lesedauer: 6 Minuten

#7 Wiborada von St.Gallen. Oder: Warum Wut wichtig ist

Wie kann ich kreativ mit meiner Wut umgehen? Und wo lässt sich die kollektive Wut kanalisieren und fruchtbar machen? Am Beispiel der Wiborada erzähle ich dir, wie Frauen in St.Gallen kreativ und konstruktiv Geschichte schreiben.

Herzlich willkommen zu einer neuen Folge von Sternenglanz. Schön, dass du dabei bist. 

Wenn ich an Carsten denke, sehe ich jetzt immer, wie er vor dem Spiegel steht und übt, zu strahlen. «Welche Muskeln brauche ich, wenn ich über das ganze Gesicht strahlen möchte?» – so eine schöne Frage, die Carsten in der letzten Podcastfolge gestellt hat! Ich finde, es lohnt sich, das auszuprobieren. Auch wenn, oder vielleicht gerade, weil das Leben nicht immer zum Strahlen ist.

Nachdem wir nun zwei Folgen lang viel vom Lachen und Strahlen gesprochen haben, handelt diese Podcastfolge von einer anderen Emotion und Kraft, die in meinem Leben nicht selten genauso eine Rolle spielt. Die WUT! 

Höre diesen Text als Podcast:

Es gibt Tage und Situationen, da werde ich wütend. Manchmal ein bisschen, und manchmal geht so richtig jede Sicherung mit mir durch. Da fliegen auch mal Bücher oder Schuhe durch das Zimmer. Oder eine Faust schlägt hörbar auf den Tisch. «Gopferteckel» – es gibt einfach Situationen und Lebenszustände, die derart zum Schreien sind! 

Manchmal frage ich mich: Wie kann ich kreativ mit meiner Wut umgehen? Immerhin ist die Wut Energie und kraftvoll. Sie steht für meine Empörung, meinen Aufstand.

Kollektive Wut

Vor allem dann, wenn es eine Wut ist, die nicht einfach allein mein Leben betrifft. Ich nenne es die kollektive Wut. Es gibt Themen und Zustände unserer Welt, die Grund zur Wut geben und die auch diese tiefe Energie der Wut brauchen, um etwas in Bewegung zu setzen:

  • Wenn ich ans Klima denke und sehe, wie wir und viele andere mit der Welt umgehen, werde ich wütend. 
  • Wenn ich Richtung Ukraine schaue, aber auch an so viele andere Orte, in denen sinnlose Kriege geführt werden, werde ich wütend. 
  • Wenn ich lese, wie die bankrotte Credit Suisse doch noch Boni auszahlen möchte, werde ich wütend. 

Ein Thema, das mich besonders wütend macht, betrifft die Gleichberechtigung. Auch wenn immer wieder positiv herausgehoben wird, wie gut wir Frauen es doch in der Schweiz haben, weil wir die gleichen Ausbildungen machen können wie die Männer und weil wir Frauen inzwischen auch in vielen wichtigen Ämtern und Positionen angekommen sind: Noch immer herrscht ein grosses Ungleichgewicht in Sachen Lohn, Einfluss und Wahrgenommen werden. Zwei Beispiele: Nur 36 Prozent der Führungskräfte in der Schweiz sind Frauen ↗, so die neusten Zahlen (2022) des Bundesamtes für Statistik. Und die Löhne von Männern sind im Durchschnitt um 19.5% höher als die der Frauen ↗

Wer zitiert hier wen?

Erst kürzlich war ich bei der Eröffnung der OLMA-Messe in St.Gallen mit viel Prominenz, vielen Reden – und was fällt auf? Sämtliche Redner zitieren ausschliesslich Männer: «Wie schon Immanuel Kant sagte», «Wie Nelson Mandela meinte», oder Friedrich Nietzsche, Aristoteles, Dalai Lama, Mahatma Ghandi…

Ich sage ja nicht, dass das nicht beeindruckende, teilweise grossartige Männer waren. 

Aber wie kann es sein, dass sämtliche Rednerinnen und Redner, die glauben, etwas Gehaltvolles sagen zu müssen, sich allein auf Männer berufen?

Du spürst es… da kommt meine Wut!

Doch wie ich am Anfang betont habe, möchte ich die freigewordene Wut-Energie nicht destruktiv einsetzen, sondern schauen: Wo lässt sich diese Wut kanalisieren, fruchtbar machen zu kleinen Verbesserungsschritten?

Wiborada-Statue bei der St. Mangenkirche in St. Gallen

Wiborada von St.Gallen

Als Beispiel erzähle ich dir gerne von einem Projekt in meiner Heimatstadt St. Gallen in der Ostschweiz. In St. Gallen gibt es nämlich auch viele berühmte Männer – wie Gallus, nach dem diese Stadt und der ganze Kanton benannt ist, Otmar oder Vadian. Daneben gibt es grosse und grossartige, oft vergessene Frauen. Eine davon ist Wiborada. Schon von ihr gehört?

Wiborada war die erste Frau – weltweit – die heiliggesprochen wurde von der katholischen Kirche!

Stell dir das vor! Und hier, in unserer kleinen Stadt St. Gallen, hat sie gewirkt.

Die Frau hat vor 1000 Jahren im Mittelalter gelebt. Und sie muss eine derart kluge und wichtige Frau gewesen sein, dass sogar Männer in hohen Ämtern bei ihr Rat suchten und auf sie hörten.

Wiborada von St.Gallen – aus der Ausstellung in der St.Mangenkirche

Wiborada war eine sogenannte Inklusin. Das heisst, sie hat sich einmauern lassen und ihr Leben über Jahre auf wenigen Quadratmetern verbracht. Das ermöglichte ihr ein selbstbestimmtes Leben, bei dem sie frei entscheiden konnte, wie sie ihre Zeit verbringen wollte. Ihre sogenannte Zelle bei der Kirche St. Mangen hatte zwei Fenster. Eines zur Kirche – so konnte sie bei den Gottesdiensten hinter der Mauer mitfeiern – und eines hinaus zur Stadt. Dieses Fenster zur Stadt war wichtig, weil so konnte sie einerseits versorgt werden mit den nötigen Lebensmitteln, aber vor allem hatte sie ein offenes Ohr für die Sorgen der Stadt und konnte viele Menschen beraten. Wiborada heisst «Weiberrat».

Vielleicht fragst du dich jetzt: Was hat diese Wiborada mit meiner Wut zu tun?
Nun: Wäre Wiborada ein Mann gewesen, wäre sie heute hochberühmt! 

St. Gallen würde vermutlich St. Wiborada heissen und man würde diese beeindruckende Person seit Jahren aus den Schulstunden kennen und bewundern. Das ist doch schon krass. Da muss man als Frau ein stückweit wütend werden – findest du nicht?

Wenn Wut kreativ & konstruktiv macht

Aber was ich so faszinierend und konstruktiv finde: Die Frauen von St. Gallen erstarren nicht in Wut darüber, dass es dieses «Phänomen Wiborada» gibt und zahlreiche Frauen in unseren Geschichtsbüchern fehlen und noch immer kaum Beachtung finden. 

Sie resignieren nicht, sondern sie lassen Wiborada einfach neu aufleben. 

Hier und heute.

Ohne destruktiven Kampf oder laute Wut. 

Sondern kreativ und tiefsinnig.

Zwei Frauen besuchen den Inklusen, der eine Woche in der neu gebauten Zelle bei der Kirche St. Mangen lebt.

Seit drei Jahren nämlich steht sie wieder: Die Zelle bei der Kirche St. Mangen, in der Wiborada einst gelebt hat. Nachgebaut, mit einem weichen Bett, einer ToiToi Toilette und einer Heizung, also viel moderner und bequemer als damals – aber mit fast ebenso grosser Wirkung: 

Immer im Mai lassen sich Menschen für je eine Woche einschliessen. Und sind – wie damals Wiborada: Einfach da. Mit Fenster zur Kirche und Fenster zur Stadt, um zu hören, was Menschen beschäftigt, um sie zu beraten und für sie zu beten. 

Einerseits spüren sie so dem Leben von Wiborada nach und versuchen, tausend Jahre später, zu verstehen, warum sie das gemacht hat: Sich einmauern lassen. 

Anderseits geht es auch darum, der Stadt ihre wichtige Frau zurückzugeben. Sie bekannt werden zu lassen. 

Was hier vor Ort mit Wiborada geschieht, hat – da bin ich mir sicher – eine grosse Wirkung für viele Frauen und Frauengeschichten, die man einfach vergessen und ihrem Schattendasein überlassen hat.

Das Wiborada-Projekt von St. Gallen ist ein gutes Beispiel dafür, wie man kreativ mit kollektiver Wut umgehen kann, finde ich: Es zeigt, wie diese unglaubliche Kraft, die beim Gefühl der Wut ausgelöst wird, eingesetzt werden kann, ohne dabei zu zerstören.

Soviel im Moment zu Wiborada. Was ich erlebt habe, wie ich mich wie Wiborada in eine Zelle einschliessen liess, das erzähle ich vielleicht ein andermal.

Was macht dich wütend?

Heute lasse ich die Erkenntnis stehen, dass WUT im besten Fall in konstruktive Energie umgesetzt werden kann. Und dass es wichtig ist, Wut nicht zu unterdrücken, sondern zu leben (natürlich, ohne anderen Menschen oder sich selbst Schaden zuzufügen).

  • Vielleicht versuchst du das auch mal? 
  • Was macht dich wütend? 
  • Worüber kannst du dich ärgern, auslassen, an die Decke gehen? 

Ich hoffe, du hast Mitstreiterinnen für deine kollektive Wut.
Oder aber ein grosses, weiches Kissen, in das du hineinboxen kannst.

Den nächsten Sternenglanzpodcast mit Carsten hörst du am 25. Mai. 

Bis dahin, mach’s gut und pass gut auf dich auf! 

Portrait Kathrin Bolt

Kathrin Bolt

Kathrin schreibt und spricht leidenschaftlich gerne. Die 42-Jährige lebt mit ihrer Familie in St.Gallen und arbeitet als Pfarrerin in der evangelisch-reformierten Laurenzenkirche. In ihrer Freizeit spielt sie Theater.