Es gibt Menschen, die mag ich einfach nicht. Oder, mehr noch, sie treiben mich in den Wahnsinn. Sie nerven mich zutiefst, machen mich aggressiv. Es gibt Menschen, die kann ich einfach nicht liebhaben!
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Damit meine ich natürlich nicht Carsten, der in seiner letzten Podcast-Folge über sein Harmoniebedürfnis gesprochen hat. Oder besser noch: über unseres. Mit Carsten kann ich es gut – auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind, wie wir je länger, je mehr feststellen. Und je länger, je mehr können wir das auch benennen und aushalten: Du bist nicht so wie ich, und das ist in Ordnung!
Von der Vielfalt
Mir gefällt’s, dass es so viele unterschiedliche Menschen gibt. Wie langweilig wäre unsere Welt, wenn alle so wären wie ich. Oder wie Carsten. Das wäre vielleicht harmonisch, aber längerfristig auf jeden Fall nicht spannend. Es ist ja gerade die Vielfalt, die unser Leben ausmacht. Allerdings ist Vielfalt auch anspruchsvoll. Ich bin immer wieder damit konfrontiert, dass es Menschen gibt, die mich innerlich unruhig und wütend machen. Manchmal weiss ich gar nicht, warum. Ich spüre es körperlich, wie der Atem kürzer wird und sich innerlich eine Wut aufbaut.
Ich spreche jetzt nicht von den berühmten schwierigen Menschen, die unsere Welt regieren und uns ratlos zurücklassen. Ich spreche von Menschen, die mir begegnen, mit denen ich immer wieder zu tun habe: Vom narzisstischen Mitarbeiter, der jammernden Nachbarin oder der anstrengenden Frau, die sich im Bus zu jeder fremden Person hinsetzt und lauthals über Gott und die Welt klagt. Menschen, die uns im Alltag unterbrechen, uns Energie absaugen, verwirren. Menschen, die in uns eine Abneigung auslösen, die wir manchmal nicht einordnen können.

Ratgeber
In vielen Ratgebern lesen wir, wir sollen uns möglichst nur mit denjenigen Menschen abgeben, die uns guttun. Wir sollen den Kontakt zu denen meiden, die uns viel Energie kosten und eben nicht guttun. Das leuchtet ein. Und manchmal ist das auch ein wichtiger Schritt: Eine vermeintliche Freundschaft beenden. Den Mut haben, sich auch mal abzugrenzen und NEIN zu sagen.
Doch oft können wir uns die Menschen, die uns begegnen, nicht aussuchen. Sie wohnen neben uns oder wir arbeiten mit ihnen. Oder wir haben einen Beruf, bei dem Menschen einfach kommen: In der Arztpraxis oder im Kleiderladen, beim Friseur oder im Beratungsbüro. Da kommen die Frau Meier und der Herr Müller und das nervige Kind und die einsame Frau, die nicht aufhören kann zu reden.
Selbst wenn mich das manchmal viel kostet, meine Zeit mit Menschen zu verbringen, die mich herausfordern: Ich finde, das gehört sich. Und ich glaube, es bringt mich weiter!

Die Frage ist allerdings: Wie mache ich das am besten? Wie gehe ich mit Menschen um, die mir das Leben schwer machen?
Die Ethikvorlesung
Gerne erinnere ich mich dabei an meinen Ethikprofessor, der mir eine wichtige Unterscheidung beigebracht hat: Es gibt ein GEFÜHL DER LIEBE und es gibt den GEIST DER LIEBE.
Ich erinnere mich noch so gut an diese Ethikstunde in Zürich an der Universität vor gut 20 Jahren. Da hat sich mein Herz richtig geöffnet und ich ein grosses «AHA-Erlebnis». Es gibt nur wenige Vorlesungen, von denen ich noch weiss, dass ich sie besucht habe. Und dann noch den Inhalt wiedergeben kann.
Aber diese Unterscheidung ist mir bis heute geblieben und hilft mir im Alltag immer wieder: Es gibt ein Gefühl der Liebe UND es gibt einen Geist der Liebe.
Dies lehrt mich: Ich muss nicht jeden gern haben. Aber ich kann zu jedem Menschen eine respektvolle, liebevolle Haltung einnehmen.
Das Gefühl der Liebe
Wenn wir zwischen dem Gefühl und dem Geist der Liebe unterscheiden, dann ist das Gefühl der Liebe etwas, das man innerlich fühlt. Etwas, was man nicht machen oder hervorbringen kann. Ein Gefühl der Liebe hat man – oder eben nicht. Man fühlt es, wenn es da ist.
Das kennen wir alle: Wir mögen oder lieben andere Menschen, haben sie gern. Sie sind uns wichtig. Wir verbringen gerne Zeit mit ihnen, fühlen uns wohl, gehen beschwingt weiter, wenn wir sie getroffen haben. Das können Freundinnen und Freunde, Kollegen sein, aber auch Menschen, denen wir zufällig im Alltag begegnen und uns nur kurz austauschen, auch sie können in uns dieses Gefühl der Liebe auslösen.
Der Geist der Liebe
Der Geist der Liebe ist etwas anderes, vielleicht noch Grösseres! Der Geist der Liebe hat mit Haltung zu tun. Mit Spiritualität. Mit meiner Überzeugung: Jeder Mensch ist liebenswert. Auch wenn ich ihn nicht lieben kann. Jeder Mensch hat einen Grund, so zu sein, wie er ist, auch wenn ich ihn schwierig finde. Jeder Mensch hat es verdient, dass man gut zu ihm ist. Selbst wenn er oder sie es aus meiner Sicht nicht schafft, «gut» zu sein.
Das Gefühl der Liebe ist beschränkt. Mit dem Geist der Liebe kann ich jedem, jeder begegnen. Mit dieser Haltung schlage ich nochmals den Bogen zu Carsten. Carsten sagte in seiner letzten Podcastfolge, dass er ein grosses Bedürfnis nach Harmonie und Frieden habe. Ein Bedürfnis, das er nicht hergeben möchte! Weil es ein Beitrag sein kann für ein friedlicheres Miteinander.
Werbung für den Geist der Liebe
Da möchte ich anschliessen und Werbung machen für den «Geist der Liebe». Es geht nicht darum, mit jedem und allen nett zu sein und alles harmonisch auszugleichen. Aber ich glaube, dass es uns guttut, auch mit Menschen in Kontakt zu sein, die uns nicht sofort sympathisch sind. Die uns nicht nur erfreuen und begeistern, sondern auch herausfordern, aus der Reserve locken, irritieren. Wenn ich mir eingestehe, dass ich sie nicht mit dem Herzen lieben muss, ihnen aber dennoch mit offenem Herz, offenem Geist begegnen kann, verändert sich vielleicht etwas.
Vielleicht inspiriert mich jemand doch mehr, als ich gedacht hätte. Vielleicht werde ich positiv überrascht. Oder ich muss mich zumindest nicht mehr so ärgern, weil ich die Haltung einnehme: Auch wenn ich dich nicht gern habe, ich sehe dich und respektiere dich. Und freue mich an der Vielfalt des Lebens.

Wer weiss … vielleicht denkst du an den Geist der Liebe, wenn dich nächstes Mal ein Mensch so richtig ärgert.
Ich wünsche dir viel Freude beim Ausprobieren und Unterscheiden: Wo fühle ich Liebe – und wo lasse ich den Geist der Liebe wehen …?
Den nächsten Podcast hörst du am 6. November mit Carsten.
Bis dahin, mach`s gut und schau gut zu dir.

Kathrin Bolt
Kathrin schreibt und spricht leidenschaftlich gerne. Die 44-Jährige lebt mit ihrer Familie in St.Gallen und arbeitet als Pfarrerin in der evangelisch-reformierten Laurenzenkirche. In ihrer Freizeit spielt sie Theater.

