Kathrin hat kürzlich gemeint, wir wären harmoniebedürftig. Bei der Diagnose wage ich nicht zu widersprechen. Wir sind in der Tat beide eher etwas harmoniebedürftig! Aber wenn ich ihr zuhöre, habe ich schon den Eindruck, dass sie etwas weniger harmoniebedürftig ist als ich, so wie sie beim letzten Mal meine Beobachtungen mit heftigem Widerspruch gekontert hat!
Aber was heisst «harmoniebedürftig»? So klar und eindeutig ist mir das nicht.
Also erzähle ich erst einmal, was für mich Harmoniebedürftigkeit ist, und dann hole ich mir, um meine eigene Ruhe ein bisschen aufzurütteln, einen Experten ins Boot, und dann fragen wir uns noch einmal, welche Motive wohl hinter dem Harmoniebedürfnis stecken.
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Was ich unter Harmoniebedürftigkeit verstehe
Ich halte mich für einen harmoniebedürftigen Menschen.
Das bedeutet für mich zunächst nicht mehr und nicht weniger, als dass ich es gerne ruhig und friedlich habe. Da ist dieses Bedürfnis nach Ruhe und Frieden.
Das ist mehr als ein Interesse. So, wie ich mich nach Gemeinschaft und sozialen Kontakten ausrichte, so, wie ich mich sehne nach Nahrung, nach Essbarem und Trinkbarem, damit es mir gut geht, so, denke ich, habe ich auch diese Neigung, dass es bei mir harmonisch zugeht. Geht es nicht harmonisch zu, dann fehlt mir was, dann fühle ich mich nicht wohl. Gibt es Krach und Streit, dann gibt mir das zu denken. Das wühlt mich auf. Und dann bin ich froh, wenn wieder Ruhe einkehrt.
Oft bin ich irritiert über Menschen, die einfach so mal einen Streit vom Zaun brechen können. Das liegt mir nicht. Schon so manchem Streit bin ich ausgewichen oder habe die Konfrontation hinausgeschoben. Kürzlich fragte mich jemand, ob meine Konfliktvermeidung Feigheit ist.

Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, und ich denke, ich musste lernen und lerne noch, dass zuweilen ein Streit nötig ist, um Ruhe und Frieden wieder herzustellen. Ich suche die Harmonie, doch süchtig danach bin ich nicht. Nicht um jeden Preis wahre ich die Eintracht. Oft sage ich mir: Ja, ich bin ziemlich friedlich, aber reiz mich nicht zu sehr. Ich könnte auch meine Krallen ausfahren.
Es ist für mich eine wichtige Grenze, ob ich noch harmoniebedürftig oder schon harmoniesüchtig bin. Ich gestehe mir gerne ein, dass Harmonie ein Bedürfnis, ein Interesse und eine Neigung von mir ist. Ich möchte mich dafür aber nicht verbiegen. Dieses Bedürfnis nach Harmonie, so glaube ich, ist jedem Menschen irgendwie innewohnend. Vielleicht bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger.
Der Experte
Was sagt nun ein Experte zu diesem Thema? Ich bin auf Thomas Bachmann gestossen. Er ist Psychologe an der Humboldt-Universität in Berlin ↗ und hat die Harmoniebedürftigkeit etwas genauer unter die Lupe genommen. Bachmann unterscheidet drei Typen von Harmoniebedürftigkeit: erstens die Vermeidung, zweitens die Beschwichtigung und schliesslich die Fassade.
- Unter Vermeidung versteht er, dass ich versuche, Konflikte zu umschiffen. Ich steuere den Konflikt nicht an. Da scheue ich zurück. Wenn ich wählen kann zwischen einem Weg mit Konflikt und einem Weg ohne Konflikt, dann wähle ich mit Sicherheit den letzteren. Ich weiche aus, ich schaue lieber mal in die andere Richtung und hoffe, da irgendwie dran vorbeizukommen.
- Der zweite Typus, die Beschwichtigung, geht da einen Schritt weiter, denn da werden die eigenen Bedürfnisse an andere angepasst. Ich stecke zurück. Ich mache mich klein, gebe eher mal klein bei, um die Gesamtsituation zu befrieden. Ich suche irgendwo einen Kompromiss, ich gebe etwas nach, in der Hoffnung, dass es dann doch nicht so schlimm kommen wird. Ich gebe den kleinen Finger her und verspreche mir davon, dass der andere schon nicht die ganze Hand nehmen wird.
- Bachmann spricht von dem dritten Typ, der Fassade, wenn man äusserlich nett und zugänglich wirkt, aber es seltsamerweise gerade deshalb schafft, seine eigenen Interessen durchzusetzen. Da verbirgt sich doch recht viel an Taktik und Strategie hinter der ach so freundlichen Fassade. Da kann die nach aussen signalisierte Harmonie auch mal ein Trick sein, um den anderen in Sicherheit zu wiegen und auf Linie zu bringen. In diesem letzten Fall ist die Harmoniebedürftigkeit alles andere als harmlos.

Vermeidung, Beschwichtigung oder Fassade. Diese Unterscheidung hilft mir, etwas klarer zu sehen, wie ich mit meinem Bedürfnis nach Harmonie umgehe. Ich versuche gerade, mir verschiedene Situationen zu überlegen, mich zu erinnern, wie meine Harmoniebedürftigkeit bei mir aussieht.
Vermeide ich, einfach und gehe um das Problem einfach herum? Wo beginne ich denn, von meiner Position her, Abstriche zu machen, um das Problem zu befrieden? Oder signalisiere ich ganz viel Freundlichkeit, ganz viel Zucker und Schleim, um das Problem so zu lösen, wie ich meine, dass es gelöst werden muss?
Diese Fragen wecken Erinnerungen: Manche schweren Erinnerungen, wo meine Seelenruhe empfindlich gestört wurde, manche schöne Erinnerungen auch, wo meine Freude an der Harmonie manchen Krach ins Leere laufen liess oder an mir vorbeigezogen ist.
Probieren wir es an einem Beispiel. Momentan warte ich auf einen Handwerker, einen Maler. Es gibt eine kleine Stelle beim Balkon, wo etwas Wasser in die Mauer eindringen könnte. Das muss ordentlich abgedichtet werden. Eigentlich warte ich schon ein halbes Jahr darauf. Da steht also ein ernstes Gespräch an. Ich vermeide das, indem ich noch weiter hinausschiebe. Ich klebe die Stelle selbst ab. Es ist keine gute Idee, wenn ich so etwas selbst mache, aber es erscheint mir einfacher, als um einen Termin zu streiten.
Beschwichtigung wäre, wenn ich das Problem kleinrede, etwa, dass meine Erwartung übertrieben war. Wer kann schon von einem Handwerker einen Termin erwarten! Ist doch alles nicht so schlimm. Fassade wäre, wenn ich meinem Handwerker mit so viel Freundlichkeit Honig um den Bart schmiere, dass er emotional nicht mehr anders kann, als endlich meinen Balkon abzudichten. Wenn mir so ein Beispiel durch den Kopf geht, dann frage ich mich, was eigentlich in mir passiert, wenn ich um Harmonie ringe. Ich will behutsam besser schauen, was dabei in mir passiert.
Was steckt dahinter?
Mich beschäftigt schon die Frage, welche Motivation hinter dem Bedürfnis nach Harmonie steckt. Vielleicht bin ich mir meiner selbst nicht so sicher, um klare Grenzen zu setzen, wann ich Ja sage, wann ich Nein sage. Vielleicht aber will ich anderen gefallen, will gemocht werden, gar um meiner selbst willen?
Es könnte auch sein, dass mein Bedürfnis nach Harmonie Ausdruck meines Wesens ist, weil ich Eintracht und Frieden als Werte tief in mir finde. Warum will ich also Harmonie? Wohin wird mich mein Wunsch nach Harmonie wohl führen? Ich finde da noch keine klare Antwort auf all diese Fragen. Ich merke aber, dass ich den Fragen nachgehen will, was mich antreibt, Harmonie zu finden, und was Harmonie für mich heisst.
Wir reden viel von Harmonie in der Musik. Musik ist das Zusammenspiel, das Zusammentönen verschiedenster Töne. Harmonie ist die Einheit in der Vielfalt. Vielleicht ist Harmonie also Balance von Gegensätzen. Harmonie ist ein beständiges Ausbalancieren von Dingen, die unmöglich zusammenzupassen scheinen.

Ich kenne also mein Bedürfnis nach Harmonie. Manchmal muss ich mich nur daran erinnern, dass der Weg zur Harmonie mit dem Aushalten und Aussöhnen von Gegensätzen gepflastert ist. Und letztlich ist Harmonie etwas Schönes, und meine Harmoniebedürftigkeit ein kleiner Beitrag zum Frieden. Aber pass auf, ich könnte auch anders!;)
Unseren nächsten Podcast hörst hier dann wieder am 23. Oktober, dann wieder mit Kathrin Bolt.
Dir alles Gute & Gottes Segen!

Carsten
Wolfers
Carsten Wolfers ist leidenschaftlicher Podcaster und Hobby-Musiker. Der 52-Jährige lebt mit seiner Familie im Rheintal und arbeitet als Diakon für die römisch-katholische Kirche in Sevelen. In seiner Freizeit philosophiert er gerne über die grossen Fragen des Lebens.

