«Macht Glaube schön»?
Echt jetzt, Carsten, wollten wir uns dieser Frage stellen?
Also gut: Wenn du schon damit anfängst, nehme ich die Herausforderung auf und führe deine Gedanken weiter.
Höre diesen Text als Podcast:
Ich interessiere mich für beides: für den Glauben und für die Schönheit.
Und ja, ich glaube wir reden viel zu wenig über Schönheit in unseren Kirchen! Und das, obwohl Kirchen immer schon mit viel Glanz und Prunk ausgestattet waren – insbesondere die katholischen. Oder die schönen Kleider der Priester!

Gut, davon hat sich die reformierte Kirche ja mit gutem Grund abgewendet. Und einige Kirchenmenschen haben sich bewusst sehr sparsam und unauffällig gekleidet, um ja nicht den Anschein zu machen, etwas auf ihr Äusseres zu geben ‒ mit dem Resultat, dass uns Christinnen und Christen ein gewisses Image von Menschen mit schmuddeligen Wollsocken, Finken und Gitarre anhängt.
Ich erinnere mich noch gut, wie ich am ersten Tag meines Theologiestudiums den Raum betrat … da sass eine Frau im schlichten Strickpullover, ungeschminkt. Daneben ein Mann mit ungepflegtem Bart. Am liebsten wäre ich wieder umgekehrt.
Wie kommt es, dass Kirchen und Kirchenmenschen oft so wenig Sinnlichkeit und Leiblichkeit ausstrahlen?! Und das, obschon in der Bibel unglaublich plastisch, sinnlich und erotisch über körperliche Schönheit gesprochen wird.
Erotik in der Bibel: Das Hohelied der Liebe
Im sogenannten «Hohelied der Liebe» im Ersten Testament werden Komplimente für den menschlichen Körper verteilt verbunden mit Lust und Liebe. Diese Worte hören wir in Gottesdiensten selten:
«Du bist so schön, meine Freundin!
Du bist so schön! Deine Augen sind Tauben.»
«Du bist so schön, mein Geliebter, so anziehend. Mein Freund gleicht einer Gazelle oder einem jungen Hirsch!»
«Steh auf, meine Freundin, Komm, meine Schöne, komm her!
Zeig mir deine Gestalt. Lass mich hören deine Stimme, denn deine Stimme ist süss und deine Gestalt ist lieblich.»
In diesen Versen ist die Rede von schönen Beinen, schönen Brüsten, von feinen Körperdüften und Körpersäften: Das volle Programm!

Schönheit wird in diesem biblischen Buch mit Lust und Erotik verbunden. Aber auch mit Dankbarkeit und Liebe Gott gegenüber, der dieses Leben – und eben auch den Körper und die Körperlichkeit – geschenkt hat.
War Jesus sinnlich?
Ich glaube, dass wir diese Sinnlichkeit, Lust und Körperlichkeit auch bei Jesus finden.
Carsten sagt zwar, Jesus habe seine Wirkung vor allem über das Geistige gezeigt. Im letzten Podcast hat Carsten gesagt, Jesus sei eben keiner gewesen, der joggt oder sich die Nägel machen lässt. Er habe den Menschen zugehört, Seelsorge betrieben und Menschen mit Worten begeistert.

Ich stelle mir vor, dass Jesus darüber hinaus ein sehr sinnlicher, körperlicher Mensch war. Immerhin liess er sich von einer attraktiven Frau mit kostbarem Öl übergiessen und mit Tränen einnässen. Sie weinte an seinen Füssen und trocknete diese mit ihren Haaren. Ist das nicht sinnlich – ja sogar ziemlich erotisch?
Auch die Tatsache, dass von Jesus erzählt wird, er habe gern Wein getrunken und dafür gesorgt, dass genügend Brot und Fisch vorhanden sind, zeigt:
Auch Jesus bestand nicht allein aus Geist und Glaube – sondern genauso aus Fleisch und Blut.
Und die Tatsache, dass so viele Menschen ihm gerne zugehört haben, könnte dafür sprechen, dass er auch ein bisschen was auf sein Äusseres hielt.
Ich weiss nicht, wie es euch geht: Aber für mich spielt die Ausstrahlung und das Aussehen eines Menschen eine Rolle. Ich kann besser zuhören, wenn ich jemanden auch gerne ansehe.
Sich schön machen – zur Ehre Gottes
Und so überlege ich mir aus diesem Grund bewusst, was ich anziehe, wie ich mich schminke, wenn ich einen Gottesdienst gestalte oder einen Vortrag habe. Die Menschen, die mir zuhören und mich dabei ansehen, haben es verdient, dass ich mir Mühe gebe und versuche, meinen Möglichkeiten entsprechend schön auszusehen.
Ich empfinde das sogar als ein Stück «Gottes Lob» bzw. ich möchte das «zur Ehre Gottes» tun, dass ich meinen Körper und mein leibliches Dasein auch pflege und geniesse.

Mit dieser Haltung lässt sich eine Verbindung von Glaube und Schönheit herstellen, finde ich: Aus Dankbarkeit und Liebe gehe ich achtsam mit meinem Körper um und versuche, ihn zum Strahlen zu bringen.
Wenn Schönheit weh tut
Mir ist bewusst, dass diese Haltung ein Privileg ist. Ich kann so denken, weil ich gesund und einigermassen zufrieden mit meinem Körper bin.
Ich bin mir bewusst, dass viele Menschen Mühe haben, ihre Körper anzunehmen.
- Manche eifern mit unglaublichem Einsatz von Geld oder Training dem perfekten Körper nach.
- Andere geben auf und lassen sich komplett gehen.
- Wieder andere verkaufen ihre Körper, um Geld zu verdienen, müssen sich prostituieren, werden ausgenutzt.
Das ist eine traurige Tatsache. Und ich wünsche mir, dass wir als Kirchen und als gläubige Menschen mehr tun gegen den Schönheitswahn, und gegen die herablassende Sachlichkeit, mit der oft über Körper – insbesondere Frauenkörper – geurteilt wird.
Schönheit geht nicht ohne Menschenwürde.
Schönheit geht nicht ohne Liebe.
Schönheit geht nicht ohne Achtung.
Ein liebevoller Blick
«Bei mir bist du schön!» ‒ Dieses Lied ist in den letzten 100 Jahren um die Welt gegangen. Geschrieben würde es für ein jiddisches Musical. Ein Hit wurde es durch die Swing-Fassung der «Andrew Sisters». Über die USA ist das Lied in die ganze Welt und schliesslich zurück nach Deutschland gelangt, wo es eine Zeit verboten wurde, als man die jüdischen Wurzeln wiederentdeckte.
Es gibt viele Gründe, warum dieses Lied so bekannt und beliebt wurde: einer davon ist vielleicht, dass darin ein tiefes Bedürfnis zum Vorschein kommt:
Um unsere eigene Schönheit zu glauben und zu spüren brauchen wir Menschen, die uns sehen. Ansehen.
Und das ist für mich christlich. Das ist für mich Glaube:
Nicht allein, dass ich innerlich zufriedener werde, weil ich meditiere und an das Gute glaube. Sondern auch, dass ich andere Menschen bewusst sehe. In Ihnen das Schöne suche und es ihnen auch zuspreche. Komplimente verteile.
Ernst gemeinte Komplimente, aber vielleicht unerwartete – wie im biblischen Hohelied:
Du bist so schön, meine Freundin!
Du bist so schön! Deine Augen sind Tauben.
Heute würden wir das wohl nicht als Kompliment verstehen, wenn jemand unsere Augen mit Tauben vergleicht. Das Hohelied der Liebe ist über 2000 Jahre alt – mit der Taube ist eine Liebesbotin gemeint! Die Liebesgöttin Aphrodite wurde nämlich oft mit einer Taube dargestellt.
Kleine Gesten mit grosser Wirkung
Vielleicht suchen wir heute neue Bilder, wie wir einander Komplimente machen können – für eine Haut, so schön wie Karamell oder Zehen so lieblich wie Pralinen.
Hast du Ideen, wie du deine Schönheit sehen und dir selbst etwas Gutes tun kannst? Oder wie du Menschen um dich herum ansehen kannst – nicht nur auf den ersten Blick, sondern etwas tiefer. Um dann zu sagen:
«Bei mir bist du schön» oder eben: «Du bist so schön!»
Den nächsten Podcast hörst du am 22. Mai mit Carsten.
Bis dahin, mach`s gut und schau gut zu dir.

Kathrin Bolt
Kathrin schreibt und spricht leidenschaftlich gerne. Die 43-Jährige lebt mit ihrer Familie in St.Gallen und arbeitet als Pfarrerin in der evangelisch-reformierten Laurenzenkirche. In ihrer Freizeit spielt sie Theater.