Podcast Sternenglanz St.Gallen

Lesedauer: 5 Minuten

#44 Was hat sich in deiner Seele alles verankert?

«Da ist Hoffnung. Tief in mir. Als Anker in meiner Seele», sagte Carsten im letzten Sternenglanz-Beitrag. Das ist schön. Stark. Ermutigend! Ein Bild, das mir Kraft gibt.

Das braucht meine Seele, denn wenn ich ehrlich in mich hineinschaue, sehe ich: Die Hoffnung ist leider nicht das einzige, was sich in meiner Seele verankert hat; was sich festgesetzt hat über all die Jahre:

Neben dieser Hoffnung, neben Liebe und Freude und schönen Erinnerungen, haben sich Dinge eingeharkt wie: Verletzungen. Enttäuschungen. Ängste.
Teilweise über Jahre. Vielleicht schon vor meiner Geburt.

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Letzte Woche hatte ich Urlaub und Zeit, Bücher zu lesen. Ein Roman ist mir besonders nahe gegangen: «Verbrenn alle meine Briefe» von Alex Schulmann.

Der Roman zeigt auf, wie sehr unsere Seele geprägt ist von all dem, was vor uns, in uns und um uns herum ist. Der Ich-Erzähler will herausfinden, warum so viel Wut in ihm ist. Denn er merkt, dass seine zwei- und vierjährigen Kinder und seine Frau Angst vor ihm haben und erschrickt darüber. Er fragt sich – woher kommt es, dass er seinen Liebsten Angst machen? Was hat sich da in ihm für eine Wut verankert?

Da muss etwas sein, tief in ihm. Etwas, das sich eingenistet hat und wie ein Anker festgesetzt hat. In ihm und auch in seiner Familie. Und diesem will er auf den Grund gehen.

Der Mann im Roman ist der Schriftsteller selbst, das Buch hat viel Autobiographisches. Auf seiner inneren Reise zu sich selbst begegnet Alex Schulman seinem Grossvater Sven Stolpe, einem bekannten Schriftsteller.

Foto: Sven Stolpe um 1929, zur Zeit seines literarischen Debüts, Wikimedia Commons

Er erinnert sich daran, wie es in seiner Familie immer schon viel Angst gab: Da sind Kindheitserinnerungen an Momente am Küchentisch der Grosseltern, in denen der Grossvater plötzlich laut wird, weggeht oder die Grossmutter demütigt.

Schritt für Schritt geht der Schriftsteller Alex Schulman der Frage nach, warum sein Grossvater eine so grosse, tiefe Wut in sich trug. Eine Wut, die er schliesslich auf seine Frau, die Kinder und Kindeskinder übertrug.

Die Wut des Grossvaters entstand aus einer tiefen Verletzung, die viele Jahre zurücklag.

Enkel Alex findet Briefe, die seine Grossmutter aufgehoben hat von einem Mann namens Olof Lagercrantz. Seine Grossmutter hatte sich als junge Frau in diesen Dichter verliebt, kurz nach der Hochzeit mit Alex Grossvater. Da hatte die Grossmutter also eine grosse Liebe, die nicht gelebt werden konnte. Ein Familiengeheimnis, dass das Leben der Grossmutter und des Grossvaters prägte.

Foto: Olof Lagercrantz 1964, Wikimedia Commons

Grossvater Sven Stolpe kam über diese Affäre, dieses Betrogen-Werden nie hinweg. Er gab seiner Frau auch nicht die Möglichkeit, sich zu trennen und diese Liebe zu leben. Er zwang seine Frau, bei ihm zu bleiben und demütigte sie von da an immer wieder aufs Neue.

Betrogen werden

Im Roman «Verbrenn alle meine Briefe» werden Menschen porträtiert, deren Seelen verletzt sind von Angst, Enttäuschungen und Nicht-gelebtem-Leben. In sämtlichen Büchern des Schriftstellers Sven Stolpe wird dieses Thema, das «Betrogen werden» von einer Frau, verarbeitet.

Da hat sich Wehmut in den Seelen festgesetzt. Trauer. Resignation.

Es sind keine leichten Lebensgeschichten.
Aber es sind ehrliche Geschichten. So, wie Lebensgeschichten sind.
Und mittendrin gibt es auch Liebe und Hoffnung, zu verstehen.


Für Alex Schulmann ist es die Hoffnung, sich lösen zu können von dieser tief verankerten Wut, die sich über Generationen festgesetzt und so viel Dunkles in die Familie gebracht hat.

Marin Tulard Unsplash

Raum in der Seele schaffen

Das Buch hat mich bewegt. Und als ich den Podcast von Carsten hörte mit dem schönen Bild, dass die Hoffnung ein Anker in unserer Seele ist, kam mir die Idee, dass wir für diese Hoffnung Raum schaffen könnten in uns – wenn es uns gelingt, nicht nur Neues zu verankern – sondern das zu lösen, was sich über Jahre, Jahrzehnte festgesetzt und eingeharkt hat. 

Im Buch sind es aus meiner Sicht zwei grosse Schritte, die es dafür braucht:

Erster Schritt: sehen


Der erste Schritt ist ein ehrlicher Blick: Hinschauen und fragen

  • Wer bin ich?
  • Und warum bin ich so wie ich bin?
  • Wer und was hat mich geprägt?
  • Vielleicht entdecke ich Enttäuschungen, die weit zurückliegen und immer noch viel Raum einnehmen in mir?
  • Vielleicht sehe ich anhand meiner Eltern, Grosseltern, Geschwister Muster oder Geschichten, die mir immer wieder begegnen?
  • Gibt es etwas, das ich besser verstehen möchte?
  • Etwas, das ich verändern, unterbrechen, vergeben möchte?

Zweiter Schritt: handeln

Im besten Fall wird es zweitens möglich, zu handeln:
Dazu braucht es:

  • Klärung
  • Verarbeitung
  • Versöhnung
  • Loslassen

Im Roman «Verbrenn alle meine Briefe», versucht der Schriftsteller, die Wut seines Grossvaters nicht länger auf sich zu nehmen, sondern sie dort zu lassen, wo sie hingehört: in die Vergangenheit.

Er entscheidet aktiv, diese dunkle Spirale zu von Angst und Wut zu beenden und sagt sich: «Die Seelen meiner Kinder sollen nicht mehr von dieser Wut geprägt sein!»

Das finde ich stark und ermutigt mich, auch in meinem Leben zu fragen:

  1. Was prägt mich und meine Familie?
  2. Wann hat sich was in unserer Seele verankert? Und warum?
  3. Was davon will und kann ich lösen?

Um das herauszufinden, hilft mir der Segensspruch des amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr:

Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Sich Hilfe holen

Ich hoffe, dass ich mit meinem Sternenglanz-Beitrag Mut gemacht habe, in der Seele Raum zu schaffen für den Anker der Hoffnung.

Vielleicht habe ich auch etwas ausgelöst mit der Ermutigung, auch dunkle Stellen und Verletzungen anzuschauen.
Je nachdem, was sich in der Seele verankert hat, ist es wichtig, sich Hilfe zu holen, damit es wirklich gelöst werden kann. Einige Anlaufstellen in der Ostschweiz dafür sind:

So oder so: Schau gut zu dir – zu deiner Seele – und setz deinen Anker der Hoffnung möglichst in der Tiefe!

Den nächsten Sternenglanz-Beitrag mit Carsten liest du am 7. November.

Bis dahin, mach`s gut und schau gut zu dir.

Portrait Kathrin Bolt

Kathrin Bolt

Kathrin schreibt und spricht leidenschaftlich gerne. Die 43-Jährige lebt mit ihrer Familie in St.Gallen und arbeitet als Pfarrerin in der evangelisch-reformierten Laurenzenkirche. In ihrer Freizeit spielt sie Theater.