«Ich brauche Wärme. Noch einmal Sonne, Meer und Strand. Ab in den Süden!», sagt meine Freundin und erzählt mir voller Freude, dass sie in zwei Wochen nach Mallorca fliegt. Ein anderer Freund will nach Teneriffa. Die Familie von nebenan nach Ibiza.
Hauptsache warm! Hauptsache noch einmal Sonne und Wärme aufsaugen.
Auftanken, Abschalten, unbeschwerte Zeit geniessen.
Höre diesen Text als Podcast:
Diese Sehnsucht kann ich so gut nachvollziehen: Raus aus dem kalten, nebligen Sumpf! Weg von den immer kahler werdenden Bäumen, die uns mit dem konfrontieren, was wir längst wissen:
Alles vergeht. Nichts bleibt. Die Blätter fallen – und wir irgendwann auch.
Ich habe Verständnis für alle, die sich dieser herausfordernden Jahreszeit entziehen möchten. Und doch: Ich habe beschlossen, bei dieser Herbstflucht nicht mitzumachen. Nicht nur, weil ich, wenn irgendwie möglich, das Fliegen meide, sondern vor allem, weil ich den Herbst nicht missen will.
Der Herbst ist meine Lieblingszeit.
Allein schon wegen Rainer Maria Rilke ↗, der dieses wunderschöne Gedicht geschrieben hat mit dem Titel: Die Blätter fallen.
Ich glaube, dass wir in dieser Jahreszeit viel über uns selbst und unser Leben lernen können. Und vielleicht geht es genau um das, was viele suchen, die den Herbst im Süden an der Sonne verbringen: Kraft tanken, abschalten und zur Ruhe kommen.
Ich habe mir überlegt, ob das Gedicht von Rilke uns inspirieren kann. Das Gedicht hat vier Strophen. Zu jeder Strophe habe ich mir etwas Kleines ausgedacht, was mir helfen könnte, den Herbst achtsamer und tiefer zu erleben.
1. Strophe: Alles fällt
Die erste Strophe klingt so:
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Allein in diesen ersten drei Sätzen steckt unglaublich viel Symbolkraft.
Rilke stellt zunächst einfach fest, was wir alle sehen, wenn wir in dieser Jahreszeit aus dem Fenster schauen oder draussen in der Natur sind:
Die Blätter fallen.
Doch wie fallen sie? Und woher? Und was bedeutet das?
Wie vom Himmel fallen sie – schreibt Rilke – als würden sie nicht einfach vom nächsten Baum fallen, sondern von fernen Gärten, weit oben.
Ich erinnere mich an eine Wanderung im tiefen Herbst. Unter meinen Füssen im Wald raschelten so viele Blätter, dass ich mir sicher war: Jetzt sind alle Blätter gefallen. Aber dann sah ich nach oben – es ging auch etwas Wind – und sah, dass weiterhin hunderte von Blättern über mir hin und her wehten und sich langsam ihrem Fliegen und Fallen hingaben.Aus den Zeilen von Rilke lese ich, dass sie nicht absichtslos fallen. Jedenfalls nicht ohne Trauer: Die Blätter fallen mit verneinender Gebärde, schreibt Rilke. Mit sterbendem Gesicht schreibt dazu ein Schüler, der das Gedicht zu interpretieren versucht.
Wie ein Kopf, der «Nein» sagen möchte und sich hin und her schüttelt, wirbelt es die Blätter hin und her: traurig darüber, …
- dass die Zeit am Baum vorbei ist,
- dass Frühling und Sommer zu Ende gehen
- und damit die Blüte des Lebens.
Herbstritual: Blättermeditation
Das jedenfalls möchte ich als Übung oder Ritual mit den Herbstblättern versuchen:
Ich nehme mir Zeit, Blättern beim Fallen zuzuschauen. Vielleicht, indem ich langsam im Wald spazieren gehe oder mich auf eine Bank unter einen Baum setze. Ich nehme vielleicht sogar einige Blätter in die Hand.
Und stelle mir die Fragen:
- Wo stehe ich auf dem Weg des Lebens? Im Frühling, Sommer, Herbst oder Winter?
- Wie geht es mir damit, dass ich womöglich im Herbst des Lebens angekommen bin?
- Was macht mich in dieser Lebensphase, in der ich gerade bin, traurig?
- Wofür bin ich dankbar?
- Was hilft mir, loszulassen?
2. Dunkelheit
Die zweite Strophe von Rilkes Gedicht heisst:
Und in den Nächten fällt die schwere Erde,
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Im Herbst wird es früher dunkel. Und nicht nur der Herbst zeigt mir die Vergänglichkeit des Lebens – jede Nacht, jeder Schlaf, führt mich in die Dunkelheit. Und das bedeutet für viele Menschen auch Einsamkeit. Geschenkte Ruhe und schwere Stille zugleich.
Ich frage mich: Wie kann ich diese Stille, die Dunkelheit, die einsamen Momente meines Lebens gut gestalten?
Herbstritual: Licht entzünden
Ich habe letztes Jahr eine Kerze geschenkt bekommen, die mir persönlich in dunklen, einsamen Momenten hilft. Die Kerze besteht aus einem besonderen Glas, das mit einer besonderen Folie beschichtet ist. Wenn man in diesem Glas die Kerze anzündet, sieht es von aussen aus wie ein hell leuchtender Stern.
Für mich ein Hoffnungsbild, dass die Nacht voller Sterne ist.
Vielleicht hast du auch eine besondere Kerze für die bevorstehenden Herbstabende?
3. «Es ist in allen»
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
In der dritten Strophe benennt Rilke in aller Deutlichkeit, was schon zu Beginn des Gedichts mit den fallenden Blättern spürbar wird:
Die Vergänglichkeit geht mich ganz persönlich an.
Wir Menschen können noch so gesund essen. Sport tre iben. Antifalten-Crème benutzen oder auch Botox spritzen…
Die Zeit vergeht – und wir mit ihr. Was bleibt uns? Ich glaube, das können wir in diesen Herbsttagen ganz besonders intensiv und schön erleben – es ist der Augenblick:
- DIESES Blatt, das ich jetzt fallen sehe.
- DIESE Schnecke, die mir heute Morgen auf dem nassen Asphalt über den Weg gekrochen ist.
- DIESER Sonnenstrahl, der mich am Mittag für einige Minuten ganz unerwartet gewärmt hat.
Ich möchte mir in den Herbsttagen bewusst achtsame Momente schenken.
Herbstritual: den Augenblick verlängern
Am besten gelingt mir dies, wenn ich einige erlebte Augenblicke ein kleines bisschen verlängere:
- Ich bleibe stehen, weil mir gerade die Sonne ins Gesicht schaut.
- Ich nehme ein Blatt, eine Nussschale oder einen Stein für eine kurze Zeit in die Hand und betrachte das Gefundene.
- Selbst wenn es regnerisch und stürmisch wird, wie es im Herbst auch sein kann, kann es erfüllend sein, einen Moment länger als nötig unter dem lauten Regenschirm stehen zu bleiben und dem Prasseln des Regens zuzuhören.
Die Vergänglichkeit, das Fallen, verliert an Bedrohlichkeit, wenn ich die Zeit, die vergeht, immer mal bewusst wahrnehme und fast schon «stillstehen» lasse.
4. Strophe: Unendlich sanft gehalten
Und schliesslich ist es für mich der Schluss des Gedichts, der all dem Gesagten und Gehörten eine ganz neue Dimension und Tiefe gibt. D iese Worte habe ich mir angeeignet, auswendig gelernt:
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
Mit diesen Worten umarmt der Dichter all das, was er zuvor geschrieben hat:
- Die Trauer. Die Einsamkeit. Das Dunkle und Schwere.
- Das Fallen der Blätter, die den Kopf schütteln, wenn ihre Zeit zu Ende geht.
- Und auch das Fallen von uns Menschen, die wir immer wieder neu konfrontiert werden mit der Vergänglichkeit: mit Abschied nehmen, Krankheit und Tod.
Leben heisst Fallen, sagt Rilke. Aber es ist kein freier Fall!
Was gibt mir diese Zuversicht? Wie kann ich dieses «Gehaltensein» erleben?
Herbstritual: Wärme spüren
Ich schlage dir folgende Übung vor:
Such dir eine kuschlige Decke. Oder eine Wärmflasche. Und richte dich bequem ein. Zu Hause auf dem Sofa oder im Bett. Setzt oder leg dich hin und und versuche, dich selbst zu umarmen und festzuhalten. Oder zumindest deine Hände aufs Herz zu legen. Und dabei kannst du dir die Worte innerlich wiederholen:
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
Oder ganz kurz: «Ich bin gehalten. Ich bin getragen. Ich bin nicht allein.»
Mein Wunsch für dich ist, dass du diese Herbstzeit als geschenkte Zeit erleben kannst.
Ob du dafür in den Süden fliehst – oder bewusst dort bleibst, wo du auch sonst lebst. Beides eine gute Wahl.
Mit den fallenden Blättern, die unser Leben inspirieren.
Schönen Kerzen, die uns im Dunkeln scheinen.
Achtsamen Momenten, die deine Zeit erfüllen.
Und der unglaublichen Zusage: Da ist einer – eine – etwas – der das alles unendlich sanft in seinen Händen hält.
Zum Abschluss teile ich mit dir nochmals das ganze Gedicht:
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde,
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
Carsten hörst und liest du wieder am 10. Oktober.
Bis dahin, mach`s gut und schau gut zu dir.
Kathrin Bolt
Kathrin schreibt und spricht leidenschaftlich gerne. Die 43-Jährige lebt mit ihrer Familie in St.Gallen und arbeitet als Pfarrerin in der evangelisch-reformierten Laurenzenkirche. In ihrer Freizeit spielt sie Theater.