Podcast Sternenglanz St.Gallen

Lesedauer: 5 Minuten

#20 Vom Loslassen. Oder: Wenn Blätter fallen

Wenn du Blätter in die Luft wirfst, wenn du Spass daran hast ganz viele in die Hände zu nehmen und möglichst hoch nach oben zu werfen, dann kommen die irgendwann wieder herunter. Vielleicht tanzt du für einen kurzen Moment in deinem Blätterregen. Dann liegt alles da auf dem Boden herum. Räumt jemand das auf? Kommt ein Wind und die Sache erledigt sich von selbst?

Heute also eine Betrachtung fallender Blätter. Dazu erzähle ich dir zunächst

  1. warum ich auf das Thema komme
  2. welche Erfahrung im Alltag ich mit dieser Beobachtung der Blätter verbinde
  3. schliesslich holen wir uns von den fallenden Blättern ein paar «Lektionen» fürs Leben.

Lektionen klingt vielleicht altbacken, aber ich mag Alliterationen und hoffe doch, dass wir aus unseren Erfahrungen manchmal etwas fürs Leben lernen.

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Laub wegräumen oder liegen lassen?

Es ist auch, aber eben nicht nur der letzte Sternenglanz-Podcast, der mich dazu antrieb, über Blätter zu sprechen. Kathrin hat dieses wunderbare Bild benutzt, wie es ist, Blätter in die Hand zu nehmen und diese voller Freude in die Luft zu werfen.  

Ich wollte das endlich mal wieder machen, da bekam ich aber folgende Meldung: Vor unserer kleinen Kirche in Sevelen hatten die Bäume ringsum begonnen ihre Blätter fallen zu lassen. Die Abwartin räumte diese zügig weg. Ich würde gerne auf den nächsten kräftigen Wind warten, der die Blätter auf die Felder ringsum trägt, und bis dahin würde ich mir sagen: «Die liegenden Blätter sind eigentlich auch schön. Sicher, sie welken, aber noch sind sie bunt und schön.»  

Soviel Zeit lässt unsere Abwartin dem Laub nicht, denn: Die nassen Blätter sind glitschig. Wenn du darüber läufst oder mit dem Velo darüber fährst, dann kann es durchaus passieren, dass du fällst. Und zudem, ausgerechnet vor einer Treppe hat sich auf dem Kopfsteinpflaster so ein Film gebildet: Selbst als die Blätter fort waren, blieb es  an diesen Stellen glatt und gefährlich.

Soviel Zeit lässt unsere Abwartin dem Laub nicht, denn: Die nassen Blätter sind glitschig. Wenn du darüber läufst oder mit dem Velo darüber fährst, dann kann es durchaus passieren, dass du fällst. Und zudem, ausgerechnet vor einer Treppe hat sich auf dem Kopfsteinpflaster so ein Film gebildet: Selbst als die Blätter fort waren, blieb es  an diesen Stellen glatt und gefährlich.
Foto von Craig Tidball ↗ auf Unsplash ↗

Die gefallenen Blätter hinterlassen ihre Spuren auf den Steinen, fast schon kunstvolle Muster. Vor zwei Jahren hatte man die Steine grundgereinigt, und jetzt schon wieder solche Probleme! Dann erzählte auch noch jemand, eine Dame mit Rollator sei kürzlich da ausgerutscht und hingefallen, aber das stimmte Gott sei Dank nicht so ganz, das war ein bisschen übertrieben.

Ich habe gegoogelt, was man dagegen alles tun kann. Vor allem habe ich gelesen:

  • dass glitschiges Laub gefährlich ist,
  • dass Laub unter Büschen ein toller Dünger ist,
  • und dass ein grosser, rechter Laubhaufen ein wahrer Segen für Igel sein kann.

So weit hatte ich noch nicht gedacht: Aus dem Gefallenen kann noch etwas Brauchbares werden.

Erfahrungen im Alltag mit Loslassen

Wenn ich so die Blätter betrachte, wie sie im Herbst herunterfallen, eine Weile liegenbleiben und dann irgendwohin kommen, dann frage ich mich, welche Erfahrungen ich im Leben mache, die so ähnlich sind.

Freundschaften loslassen

Manche Vorstellung, wie ich mein Leben leben will, was ich im Leben erreichen möchte, sind wie fallendes Laub. Für eine Zeit ist es spannend und lustig und bunt, und dann sehe ich, wie manche Vorstellung von der Realität eingeholt wird.        Manches hat sich nicht ergeben, manches habe ich anders entschieden. Und dann sehe ich am Boden, wie das einstmals Bunte dahinwelkt.

Das Loslassen von alten Vorstellungen ist manchmal wehmütig, manchmal aber auch mit einer Spur Erleichterung oder gar Humor verbunden. Beim Dahinwelken manch alter Erwartungen gewinne ich an Selbsterkenntnis und an Selbstannahme. Da kann noch was Gutes draus werden.

Manche alten Freunde verliert man über die Jahre aus den Augen. Früher haben wir die Nacht zum Tag gemacht. Heute nehmen mich Beruf und Familie so in Beschlag, dass mir nur noch selten die Gelegenheit bleibt sich zu treffen, um an alte Erinnerungen anzuknüpfen. Den ein oder anderen Freund habe ich über die Jahre aus den Augen verloren. Das ist schade, und dennoch kein Anlass für Vorwürfe. Mir bleiben diese Erinnerungen an wunderbare Zeiten, mir bleibt dieses Gefühl der Verbundenheit. Entweder habe ich für andere Kontakte gelernt, dass ich besser in Kontakt bleiben könnte, oder aber ich hoffe, dass man sich früher oder später wieder über den Weg läuft.

Das Gute kehrt immer irgendwann zurück.

Vorstellungen von Kirche loslassen

Selbst die Kirche erscheint mir so in unseren Tagen. Manches gleitet da zu Boden oder welkt dahin. Man möchte meinen, manche Kirche erlebt gerade einen rechten Sinkflug. Es gibt ja das Phänomen, dass dahinsiechende Kirchen regelrecht fallen und in einen Streit- und Krisenmodus verfallen: ganze Gremien nehmen den Hut, Verwaltungen streiten vorwiegend um das liebe Geld, Personal läuft reihenweise davon. Und dann schimpft man und schaut nur noch auf sich, obwohl man ja früher einmal für Solidarität und Liebe angetreten ist.

Oder es gibt dieses Phänomen, dass es zwar nicht gut läuft, dass Kirche weiter Bedeutung verliert, aber man dennoch an den Systemen, oder an ungesunden Strukturen festhält, egal, ob diese Teil des Problems sind oder nicht. Dann frage ich mich, ob es nicht irgendwann gut ist, wenn diese zu Boden gehen. Wer weiss, vielleicht entsteht ja dennoch etwas Gutes daraus, wie beim Laub.

Menschen und das Leben selbst loslassen

Jetzt im November denkt mancher an seine Verstorbenen. Es ist eine intensive Erfahrung: Zu erleben, wie ein Mensch geht, wie er stirbt, wie man trauert und wie man langsam, langsam versucht, sich daran zu gewöhnen.

Wenn ich Blätter am Boden sehe, dann denke ich mir: Hoffentlich habe ich bis dahin gut und bunt gelebt, und wenn es mal Zeit ist, dann sind vielleicht selbst die Spuren, die ich hinterlasse, auf ihre Art noch schön.

Und wer weiss schon, ob das alles mit mir nicht doch noch für etwas richtig Gutes gut gewesen ist.

Wenn ich Blätter am Boden sehe, dann denke ich mir: Hoffentlich habe ich bis dahin gut und bunt gelebt, und wenn es mal Zeit ist, dann sind vielleicht selbst die Spuren, die ich hinterlasse, auf ihre Art noch schön.
Foto von Michal Janek ↗ auf Unsplash ↗

Lektionen fürs Leben zum Loslassen

Was lerne ich daraus für mich selbst? Welche Lektionen fürs Leben leite ich davon ab? Vielleicht Folgendes:

1.Hinsehen

Wenn etwas fällt, dann schaue ich hin, ich schaue nicht weg. Ich sehe, was passiert. Ich akzeptiere, was über mich kommt. Ich reagiere, wenn es Zeit wird. Ich sage mir dann: «Es ist jetzt so. Das ist das Fallen, das Am-Boden-Liegen. Das gehört zum Leben dazu. Willkommen in unserer Normalität.» Davor verschliesse ich nicht die Augen.

2.Schönheit entdecken

Wenn etwas fällt, dann beobachte ich mich dabei genau. Was macht meine Wehmut aus, was meine Trauer? Und bei all dem Loslassen und Nicht-mehr-möglich-Sein, sehe ich zwischen all dem Welken nicht auch Spuren von Schönheit, eben weil das zum Leben dazugehört und weil das Leben an sich schön ist? Die welken Blätter am Boden sind schön auf ihre Art.

3.Raum für Neues schaffen

Wenn etwas fällt, dann wird es irgendwann Zeit, den Mist wegzuräumen, Platz für Neues zu machen, sicherzustellen, dass da niemand darüber stolpert oder dort ausrutscht. Und wenn ich den Mist wegräume, dann ergibt sich vielleicht die Gelegenheit, das eine oder andere als Dünger oder als Platz für Kleintiere zu nutzen, im übertragenen Sinne.

Wer weiss schon, was sich aus all dem Mist nicht noch Gutes entwickeln mag. Bleib da lieber Optimist!

Zu gutem Schluss heute ein literarischer Spruch. Kennst Du den Satz: «Wenn Du eine Rose zerschneidest, sieh, sie ist in all ihren Teilen schön»? Ich bin nicht mehr ganz sicher, traue das fast Bert Brecht zu. Aber das reicht mir schon um zu sagen:

«Wenn ich Blätter fallen sehe, dann sehe ich, sie sind in all ihren Teilen, in all ihrem Dahinwelken, in all den verblassenden Spuren schön.»

Unser nächster Sternenglanz-Podcast kommt in zwei Wochen, am 23. November, dann wieder gesprochen von Kathrin Bolt.

Dir alles Gute – und Gottes Segen!

Portrait Carstel Wolfers

Carsten
Wolfers

Carsten Wolfers ist leidenschaftlicher Podcaster und Hobby-Musiker. Der 50-Jährige lebt mit seiner Familie im Rheintal und arbeitet als Diakon für die römisch-katholische Kirche in Sevelen. In seiner Freizeit philosophiert er gerne über die grossen Fragen des Lebens.