Podcast Sternenglanz St.Gallen

Lesedauer: 6 Minuten

#19 «Wirf deine Angst in die Luft»

Ich habe mir heute nochmals Zeit genommen, die letzte Folge mit Carsten nachzuhören. Und so habe ich jetzt verschiede Gartenbilder im Kopf:

  • Wiesengärten, in denen das Laub zusammengewischt wird.
  • Blumengärten, die jetzt wohl schon ziemlich verwelkt sind.
  • Gewürzgärten, die überall duften und einladen, etwas Feines zu kochen.

Auch wenn ich selbst leider keinen Garten habe, sondern nur einen kleinen Balkon, auf dem die gepflanzten Blumen und der Basilikum längst vor dem Herbst verdorrt sind: Ich kann dieser Beschäftigung mit der Erde, dem Laub und den Pflanzen immer mehr abgewinnen.

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Meine Nachbarin vis-à-vishat einmal zu mir gesagt: «Mein Garten ist meine Energiequelle. Ich wüsste gar nicht, was ich ohne ihn tun würde. Denn dank diesem Garten habe ich genug Energie für die Schülerinnen und Schüler, die ich unterrichte und für all das, was mich täglich sorgt und stresst.»

Das hat mich beeindruckt. Und mir tat sich neu auf, was das wohl bedeutet, dass in der Bibel das Paradies (also der Ort, an dem Harmonie und Frieden herrschen und an dem der Mensch ganz im Einklang mit Gott und der Welt ist) als Garten, Garten Eden bezeichnet wird.

Ein sicherer Ort, an dem Wachsen und Loslassen sichtbar wird.
Ein Ort, der Geborgenheit gibt.
Einfach nur schön…

…wenn da diese Schlange nicht gewesen wäre!

Wenn da nicht dieser Wunsch der ersten Menschen gewesen wäre, mehr von der Welt zu sehen als das eigene Gärtchen. Mehr zu wissen, als dass es zweierlei Menschen und ein paar Bäume und Tiere gibt.

Nun fragst du vielleicht: «Mein Gott, jetzt fängt sie bei Adam und Eva an. Worauf will sie hinaus?»

Ich will darauf hinaus, dass erzählt wird, die Menschen seien aus dem Paradies-Garten vertrieben worden und würden seither Böses erleben und Böses tun.

Über dieses Böse will ich sprechen.
Oder viel mehr: über die Angst, die das Böse auslöst.

Die Menschen, so heisst es, werden aus ihrem sicheren, harmonischen Garten vertrieben. Und lernen von nun an den Ernst des Lebens kennen:
Körperliche Schmerzen.
Schwere Arbeit.
Eifersucht, Stolz, Gewalt.

  • Da erschlägt der eine Bruder den andern, weil dieser besser ankommt und mehr Ansehen hat.
  • Da beginnen Völker zu wachsen, die sich ihr Land sichern wollen und darum streiten, welcher Gott der richtige Gott ist.
  • Kriege beginnen zwischen Familien, Völkern und Religionen.
  • Und zwischendurch wird erzählt, dass sogar Gott diese feindselige Welt nicht mehr aushält und versucht, sie wieder loszuwerden, in dem er sie im Dauerregen ertränkt.

Schlimme Geschichten, die den Menschen Angst machen.
Und die von der Angst der Menschen erzählen.

Angst ist derzeit überall

Und auch wenn ich lese, dass es diese Angst immer schon gab…
Und auch wenn ich lese, dass es zum Wesen dieser merkwürdigen Gattung Mensch gehört, auch böse zu sein. Anderen weh zu tun. Und nicht nur froh im eigenen Garten zu sitzen…

…habe ich im Moment das Gefühl: Das Thema Angst ist um mich herum so gross wie noch nie.

Ich spüre sehr viel Angst. In mir und neben mir.
Ich spüre sehr viel Angst. In mir und neben mir.

Ich spüre die Angst bei den Kindern, die fragen: «Was passiert, wenn Putin eine Atombome zündet?»
Ich spüre die Angst bei den Erwachsenen, die überfordert sind mit dem Nahostkonflikt und nicht wissen, was sie schlimmer finden sollen: Die Brutalität der extremistischen Gruppierung Hamas, oder die berechnende, grausame Reaktion von Israel.

Bei mir persönlich spüre ich viele Ängste und stelle mir Fragen, wie:

  • Erleben meine eigenen Kinder noch einen Weltkrieg?
  • Oder holt uns die Klimakrise vorher ein, weil die Welt keine Energie hat, sich dem wichtigsten Thema anzunehmen?
  • Was geschieht, wenn auf der ganzen Welt Politikerinnen und Politiker aus dem rechten Flügel gewählt werden, die sich für Aufrüstung und Abschottung stark machen?

In solchen Momenten der Angst wünschte ich mir, Adam und Eva hätten nicht auf die Schlange gehört. Und den Apfel einfach am Baum gelassen.
Dann sässen wir alle noch nackt und friedlich im Garten und könnten ein Leben ohne Angst geniessen.

Gut – zugegeben. Das ist weder realistisch noch hilfreich.

Die Geschichte der Vertreibung aus dem Paradies erzählt ja auch kein historisches Ereignis, sondern will genau das benennen, was wir in unserer Angst erleben: Menschen sind seit jeher zu grausamen Dingen fähig. Das ist die Realität, in der wir leben und mit der wir zusammen mit anderen leben.

Angst ist nicht die einzige Realität

Aber es ist nicht die einzige Realität. Heute hat mir eine Frau gesagt, eigentlich gäbe es weltweit viel mehr positive als negative Neuigkeiten. Würden wir diese erzählen, sähe es ganz anders aus mit unserer Angst.

Die Frage ist:

  • Was können wir tun, dass uns die Angst nicht lähmt?
  • Dass wir die Hoffnung nicht verlieren? Dass wir die schönen Dinge des Leben sehen?
  • Was können wir den fragenden Kindern antworten, die sich zurecht um ihre Zukunft sorgen?

Eines der schönsten Gedichte von Rose Ausländer beginnt mit den Worten:

«Wirf deine Angst in die Luft.»

Rose Ausländer

Unglaublich schön, oder?

Ich sehe schon Kinder vor mir, und auch Erwachsene, die das Laub am Boden zusammentragen und weit in die Luft werfen: «Wirf deine Angst in die Luft!»

Das könnte vielleicht ein Anfang sein.
Wir beginnen, über unsere Ängste zu sprechen.
Und überlegen uns, ob und was wir dagegen tun könnten.
Und dann werfen wir die Angst in die Luft.
Das könnte vielleicht ein Anfang sein.
Wir beginnen, über unsere Ängste zu sprechen.
Und überlegen uns, ob und was wir dagegen tun könnten.
Und dann werfen wir die Angst in die Luft.

Gebet gegen die Angst

So, wie die Menschen ihre Angst früher zu Gott geschrien haben: «Ich habe Angst! Wie lange noch Gott, muss ich mich sorgen?! Siehst du nicht, wie viel Schaden angerichtet wird vor dir? Wie böse die Menschen sind?!»

Ich glaube, wenn Menschen ihre Ängste als Gebet oder Gedicht formulieren, passiert das, was Rose Ausländer sagt: Sie werden in die Luft geworden.
Und der oder diejenige, die Ängste ausspricht, teilt oder laut klagt, fühlt sich leichter.

In ihrem Gedicht, das den Titel trägt «noch bist du da» ermutigt Rose Ausländer, das zu sehen, was ist. Was jetzt ist. Und was jetzt gut ist.
In ihrem Gedicht, das den Titel trägt «noch bist du da» ermutigt Rose Ausländer, das zu sehen, was ist. Was jetzt ist. Und was jetzt gut ist.

Noch duftet die Nelke
singt die Drossel
noch darfst du lieben
Worte verschenken
noch bist du da.

Ausschnitt aus: «Noch bist du da» von Rose Ausländer, Copyright © 1981, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Und damit sind wir wieder zurück – mit Nelke und Drossel – beim Garten. An dem Ort, an dem Carsten Ruhe findet und meine Nachbarin ihre Wut loswerden und abbauen kann.

Für mich ist dieser Garten überall dort, wo ich sein kann ohne diese grossen Ängste. Wo es mir gelingt, die Angst loszulassen und in die Luft zu werfen!

Sei, was du bist.
Gib, was du hast.

Ausschnitt aus: «Noch bist du da» von Rose Ausländer, Copyright © 1981, S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Das sind die letzten Worte des Gedichts.

Das wünsche ich den Kindern dieser Welt und uns allen: dass wir sein können. Und geben können. Ohne Angst.

Wenn ich das nächste Mal durch den Wald gehe, möchte ich es tun:
Laub zusammentragen, all meine Ängste hineinlegen, sie ansehen und die Blätter in die Luft werfen. «Wirf deine Angst in die Luft!»
Wenn ich das nächste Mal durch den Wald gehe, möchte ich es tun:
Laub zusammentragen, all meine Ängste hineinlegen, sie ansehen und die Blätter in die Luft werfen. «Wirf deine Angst in die Luft!»

Schick uns ein Bild, wie du deine Angst in die Luft wirfst!

Vielleicht probierst du das auch? Vielleicht machst du sogar ein Bild davon und schickst es uns auf info@sternenglanz.ch, damit wir am Ende viele bunte, luftige Bilder haben gegen die Angst dieser Welt.

Den nächsten Sternenglanz mit Carsten hörst du am 9. November.
Bis dahin, mach’s gut und schau gut zur dir!

Portrait Kathrin Bolt

Kathrin Bolt

Kathrin schreibt und spricht leidenschaftlich gerne. Die 43-Jährige lebt mit ihrer Familie in St.Gallen und arbeitet als Pfarrerin in der evangelisch-reformierten Laurenzenkirche. In ihrer Freizeit spielt sie Theater.