Kathrin hat in ihrer letzten Folge das Wort «Moralkeule» fallen lassen. Das nehme ich direkt auf.
Unabhängig, ob du selber gelegentlich mal selbst so eine Moralkeule abbekommst oder damit zuschlägst: Im Prinzip geht es ja in einer Diskussion darum, dass der eine dem anderen vorwirft, moralisch schlecht zu sein oder moralisch schlecht zu handeln. Das geschieht gerne von oben herab:
«Ich weiss es besser.»
«Ich habe die besseren, höheren ethischen Prinzipien.»
Der Meinungsgegner wird damit diskreditiert, seine Meinung ist nicht ganz sauber.
Mit der Keule machst du den anderen oder doch zumindest seine Meinung platt. Damit ist die Diskussion meist vorbei.
Höre diesen Text als Podcast:
Wenn ich das Wort Moralkeule höre, dann gehen mir ganz unterschiedliche Geschichten durch den Kopf. Von dreien dieser Erlebnisse möchte ich heute da erzählen.
1. Nadel: Ein Pfarrer wehrt sich gegen heuchlerische Vorwürfe
Ich war letztes Jahr auf einer Weiterbildung mit verschiedenen Seelsorgenden. Das Thema war, was Kirchen in Richtung Ökologie und Bewahrung der Schöpfung mehr tun können und sollen.
Es ging darum, die theologischen und spirituellen Grundlagen für Umweltschutz anzuschauen sowie eine Reihe von gelungenen Projekten kennen zu lernen, wo Kirchen sich gut für die Natur eingesetzt haben.
Und schliesslich ging es ‒ damit das ganze keine Luftnummer wird ‒ auch darum, dass wir daheim in unserer Kirche etwas verändern.
Während der Weiterbildung meldete sich mehrfach ein älterer Pfarrer. Ich schätze ihn übrigens sehr. Er fände zwar den Einsatz für die Umwelt gut, möchte sich aber nicht vorschreiben lassen, was er jetzt alles zu tun und zu lassen hätte. All dieses moralinkranke Zeug, all diese Gängelung, all diese vielen kleinlichen Regelungen seien ihm zuwider.
Diese Haltung steckt dahinter: «Ich lege mir meine Moral nach eigenem Gewissen selbst zurecht. Dann musst du nicht kommen und mir sagen, kleinlich genau, was ich alles tun oder lassen soll.»
Ich kann diese Haltung gut verstehen. Ich vermute, erst recht die ältere Generation hat in ihrer Kindheit und Jugend noch zu oft erleben müssen, wie kleinlich Kirche meinte, ihre Moral in den Alltag der Gläubigen einschreiben zu müssen.
Da wurde viel mit Druck und Disziplinierung gearbeitet. Gehorsam ist da super wichtig, und alles ist gleich obligatorisch und Pflicht und Gesetz. Ich habe allerdings solche Moralpredigten im Laufe meines Lebens so gut wie nie selbst gehört.
Ich kann die Ablehnung von dieser Moral gut verstehen. Da steckt zu wenig individuelle Gewissensfreiheit drin.
Die Weise, wie da mit Werten umgegangen wurde, hat wenig mit Jesus zu tun. Jesus hat allerdings ein paar Werte, und darum meine ich zwischen moralisch und moralistisch oder moralin zu unterscheiden.
Jener Pfarrer wehrte sich mehrfach gegen Bevormundung, richtig so! Aber als er wiederholte, er wolle sich hier kein schlechtes Gewissen einreden lassen, da meinte ich kontern zu müssen: «Wenn du kein schlechtes Gewissen haben willst, dann tu halt gescheit!»
Wir konnten in der Situation beide darüber lachen, denn wir teilen ja die gleichen Werte.
Manchmal tut es gut, einander etwas zu sticheln, dass wir einander erinnern, etwas für unser gutes Gewissen zu tun. Aber da braucht es keine Keule, es reicht so eine feine, kleine Nadel, um einander zu erinnern, welche Werte wir haben.
2. Messer: Ist Versöhnung als Ziel gesund?
Ich war vor ein paar Jahren als Gast in einer Psychiatrie, in einer Klinik, um zu hören, wie Seelsorge in diesem Bereich ihren Beitrag leistet. Da wurde erzählt, wie vorsichtig man in den Seelsorgegesprächen wird, von Versöhnung zu sprechen. Man will in diesem Setting nicht zur Versöhnung drängen und keinen Druck aufbauen.
Die Sorge dahinter ist, dass das bei psychisch kranken Menschen nicht hilfreich, nicht heilsam sein kann. Zur Versöhnung zu drängen, kann unter bestimmten Umständen die falsche Wahl sein.
Das hat mich überrascht. Ich habe natürlich im Ohr, dass Jesus Versöhnung einige Mal stark fordert. Dass Versöhnung etwas ist, was ich brauche, was mir auch guttut, was gesund ist, davon bin ich eigentlich überzeugt. Diese Perspektive, dass mancher Streit, manche Verletzung irgendwann auch wieder vorbei ist, die brauche ich manchmal.
Ich brauche niemanden, der mit der Keule dreinschlägt und alles da plattmacht, eher jemanden, der behutsam wegnimmt, gleichsam wegschneidet, was nicht gesund ist, was Genesung verhindert.
Ich brauche jemanden, der mir sagt, dass ich nicht bei den alten Geschichten stehen bleiben soll, der gleichsam ein feines Messer, ein Skalpell, nimmt und das Unversöhnte herausschneidet.
Was ich damals in der Psychiatrie lernen konnte, war der Blick darauf, wann was gesund ist. Manche Wunden heilt nur die Zeit. Andere Wunden brauchen das Skalpell, um den Eiter herauszuschneiden, damit Pflaster und Salben wirken können. Eine Keule wäre hier sicherlich falsch, aber ein feines Messer kann je nach Art der Wunde hilfreich sein.
3. Manchmal braucht es die Moralkeule eben doch.
Vor Jahren sass ich mal in einer Sitzung einer Kirchenverwaltung. Da ein Posten im Rat frei wurde, stellte ich die Frage, ob, es nicht Zeit wird, jemanden aus einem anderen Land ins Gremium zu holen. In vielen kirchlichen Gremien ist das ja Standard.
Plötzlich war es ganz still. Jemand fragte dann nach: «Ja, meinst du, wir sollten jemanden mit Migrationshintergrund in die Verwaltung holen?»
Ich meinte: «Ja.»
Wieder eine bedenkliche Stille, und dann der Kommentar: «Ja, aber bei denen kann man ja nicht sicher sein.»
Ich glaube, dass die Person, die das sagte, nicht wirklich realisierte, wie fremdenfeindlich dieser Kommentar ist, als wären alle Menschen mit Migrationshintergrund ein Risiko. Aber dass in der Runde niemand widersprach, fand und finde ich schrecklich.
Dass Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihres Standes oder ihres Geschlechtes abgestempelt und diskriminiert werden, das geht für eine Kirche im Sinne Jesu nicht.
Da wünsche ich mir in der Tat, dass jemand eine grosse, schwere Moralkeule auf den Sitzungstisch haut und sagt: «Unsere Kirche hat Werte: Liebe, Wahrheit, Gerechtigkeit, Solidarität. Und diese Werte gelten hier.»
Mein Fazit
Das sind meine drei Erfahrungsberichte. Was ist nun die Moral dieser Geschichten?
Ich wünsche mir in Fragen der Moral eine Art Besteckkasten, in dem verschiedene Gegenstände drin liegen:
- Da gibt es eine Keule, wenn Werte so sehr verletzt werden, dass Integrität und Identität angegriffen werden. In gewissen Situationen hat die Moralkeule ihren Platz. Aber hau’ diese Keule bitte krachend auf den Sitzungstisch, damit die Diskussion noch weitergehen kann. Also hau’ die Keule nicht auf Köpfe.
- Da gibt es ein feines Messer, wie ein Skalpell, wenn etwas an Moral krank ist, wenn es gesäubert werden muss. Manchmal musst du ein Messer ansetzen, damit Heilung möglich wird.
- Und dann braucht es manchmal auch eine feine Nadel. Mit dieser können wir uns gelegentlich sticheln und stechen, um uns zu erinnern, dass wir Werte haben und moralisch gute Menschen sein können, ohne uns gleich ein schlechtes Gewissen einzureden.
All diese Gegenstände liegen in der Besteckkiste drin. Manchmal brauchst du das eine, mal das andere. Mal benutzt du das eine oder andere an jemandem, mal benutzt jemand das ein oder andere an dir.
Manches Mal ist das notwendig. Und manchmal, wenn wir so richtig gut unterwegs sind, dann schieben wir diese Besteckkiste einfach zu, weil wir im besten Fall weder Keule noch Messer noch Nadel brauchen.
Danke für das Zuhören. Die nächste Folge von Kathrin kannst du hier hören am 3. August.
Dir alles Gute – und Gottes Segen!
Carsten
Wolfers
Carsten Wolfers ist leidenschaftlicher Podcaster und Hobby-Musiker. Der 50-Jährige lebt mit seiner Familie im Rheintal und arbeitet als Diakon für die römisch-katholische Kirche in Sevelen. In seiner Freizeit philosophiert er gerne über die grossen Fragen des Lebens.