Podcast Sternenglanz St.Gallen

Lesedauer: 5 Minuten

#11 Der Balken in meinem Auge: über Neid, Selbst- und Fremdwahrnehmung

Herzlich willkommen zu einem neuen Beitrag von Sternenglanz.
Ich übe mich seit der Podcastfolge von Carsten etwas mehr in meiner Selbstwahrnehmung: Was brauche ich, um ausgeglichen durch den Alltag zu kommen?

Zeiten des Alleinseins!
Familienzeit!
Party mit Freundinnen!
Oder manchmal scheinbar sinnlos einfach dasitzen und aus dem Fenster schauen.

«Schau genau und ehrlich auf deine Bedürfnisse» hat Carsten uns geraten.
Das klingt gut, überzeugend und irgendwie auch ganz einfach.
Aber ist es wirklich so leicht, auf sich selbst zu schauen, sich selbst wahrzunehmen und ehrlich zu fragen: Was brauche ich? Und wer bin ich? Und wie verhalte ich mich?

Höre diesen Text als Podcast:

Ich selbst tendiere dazu, oft erst auf andere zu schauen als auf mich. Das meine ich nicht unbedingt selbstlos. Klar, ich setze auch mal meine eigenen Bedürfnisse zurück, um für andere da zu sein: für die Kinder, die Kirchgemeinde, die Eltern, wen auch immer.

Der neidische Blick auf andere

Aber es gibt auch das Phänomen, dass ich andere neidisch beobachte und denke: «Ach – so müsste man es haben!»

  • So cool feiern wie die Jungs aus der WG neben uns, die im gleichen Stock wohnen. Das würde ich auch gerne.
  • So schön geputzt und aufgeräumt leben wie die Seniorin unter uns.
  • So ausgeglichen ruhig sein wie mein Nachbar, der jeden Tag meditiert.

Ich glaube, es ist ein sehr menschliches Phänomen, dass wir uns oft mehr mit andern beschäftigen als mit uns selbst. Gerade dann, wenn wir uns selbst nicht so leicht aushalten und nicht so genau hinschauen möchten, was bei uns nicht so gut läuft oder schwierig ist.

Neidisch auf den Nachbarn, der immer Zeit zur Meditation findet? Ein Beitrag über Neid, Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung. Foto von David Brooke Martin auf Unsplash
Neidisch auf den Nachbarn, der immer Zeit zur Meditation findet?
Foto von David Brooke Martin ↗ auf Unsplash ↗

Und wenn wir nicht neidisch auf andere blicken, die es scheinbar viel besser haben als wir, dann fangen wir gerne an, über sie herzuziehen und zu urteilen. Also ich kann jetzt nur von mir selbst sprechen. Ich neige manchmal dazu, über andere zu lästern. Oder mich aufzuregen. Das Gegenteil also von Selbstwahrnehmung.

Zu diesem Phänomen gibt es einen bekannten Bibelvers ↗, der so gut ist, dass er auch in Kaderseminaren zum Thema Kommunikation gebraucht wird. Aber er ist nicht nur gut – er ist auch ein bisschen eine Moralkeule:

Was siehst du den Splitter im Auge deines Gegenübers und den Balken in deinem eigenen Auge siehst du nicht?

Die Bibel, Matthäus 7,3

Jesus wirft uns mit diesem Vers eine gewisse Blindheit vor, was unser Selbst angeht. Wir sind gut darin, andere zu verurteilen – oder neidisch auf andere zu blicken. Doch meistens lenken wir damit vor allem von uns selbst ab.

Zu diesem Phänomen kursierte vor einigen Jahren auf Facebook eine kleine Geschichte, die ich sehr amüsant finde und euch gerne erzähle:

Ein junges Paar zieht an einen neuen Ort und wird von den Nachbarn natürlich aufmerksam beobachtet. Als der Mann draussen seine Wäsche aufhängt, sieht ihn eine Nachbarin durchs Küchenfenster und sagt zu ihrem Mann: «Schau mal die Bettwäsche unserer neuen Nachbarn an. Die ist ja richtig schmuddelig! Furchtbar. » Eine Woche später ist wieder Waschtag. «Der Nachbar hängt wieder seine schmutzige Wäsche auf. Unglaublich! Soll ich ihm vielleicht mal ein gutes Waschmittel vorbeibringen?» Sie meint es nicht schlecht und nimmt sich das tatsächlich vor. Allerdings bleibt es beim Vorsatz.

Die Wäsche im Garten der Nachbarn... Ein Beitrag über Neid, Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung. Foto von Chittima Stanmore auf Unsplash
Die Wäsche im Garten der Nachbarn… Foto von Chittima Stanmore ↗ auf Unsplash ↗

Einige Wochen später, bei einem weiteren Waschtag des jungen Paares, staunt die Frau nicht schlecht. Die Bettwäsche hängt draussen, strahlend weiss. «Hast du ihnen ein neues Waschmittel gebracht?», fragt sie ihren Mann. «Nein», sagt dieser. «Ich habe nur unser Küchenfenster geputzt».

Die Brillen und Filter, durch die wir die Welt betrachten

Die Geschichte gefällt mir. Sie ist liebevoll entlarvend. Und zeigt: Wir schauen meistens durch irgendwelche Brillen und Filter in die Welt. Das gilt für unsere Selbstwahrnehmung genauso wie für unsere Wahrnehmung der anderen.
Und ich glaube, diese Filter oder Fenster, durch die wir schauen, die beeinflussen unsere Wahrnehmung noch viel mehr, als uns bewusst oft bewusst ist.

Wenn ich zum Beispiel laute Musik höre, um durch die Wohnung zu tanzen: Höre ich dann die Musik, die mir gefällt, weil ich die Idee dazu hatte? Oder wurde mir via Algorithmus ein Lied zugespielt, von dem das digitale System ahnt, dass ich es mögen könnte?

Wirkliche Selbstwahrnehmung braucht, glaube ich, es ein ehrliches In-sich-Hineinhören. Durch die vielen Informationen, die uns täglich zugespielt werden und je länger je mehr genau auf unser Konsumverhalten und unser Milieu abgestimmt sind, kann unser Blick manchmal ganz schön eng – oder auch fremdgesteuert werden.

Umgekehrt braucht es auch ein sehr ehrliches Wahrnehmen des Gegenübers, wenn wir über das Urteilen und Lästern hinaus wirklich mit andern Menschen in Kontakt treten möchten.

Um das Bild vom Splitter und dem Balken im Auge nochmals aufzugreifen:
Vielleicht ist es heutzutage ja nicht mehr allein die Frage, ob ich nur die Splitter und Fehler der anderen sehe, oder auch mich selbst ehrlich wahrnehme – sondern die Frage: Nehme ich andere überhaupt noch wahr?

Durch welche Brille und welchen Filter nehme ich die Welt und andere war? Ein Beitrag über Neid, Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung. Foto von Stephen Kraakmo auf Unsplash
Durch welche Brille und welchen Filter nehme ich die Welt und andere war?Foto von Stephen Kraakmo ↗ auf Unsplash ↗

Carsten hat in seinem letzten Podcast so schön geschildert, wie es ist, wenn Menschen mit Kopfhörern in den Ohren und Handy vor der Nase im Zug sitzen: Nehme ich die Menschen neben mir dann überhaupt noch wahr?
Interessiere ich mich überhaupt noch für Menschen, mit denen ich nicht via WhatsApp-Gruppe täglich verbunden bin und die eh zu meiner sogenannten Bubble gehören?

Auch das klingt jetzt wieder ein wenig nach Moralkeule und vielleicht sogar ein bisschen nach «Ja, früher, als es noch keine Handys und Algorithmen gab, da war alles viel besser…»

Nein – ich möchte nicht in diesen Jammerton einstimmen.
Oft bin ich glücklich darüber, dass mir eine App Musik und Podcasts vorschlägt, die mir gefallen könnten.
Ich lese auch viele Informationen gerne, die mir bubble-gerecht über Facebook und Instagram zugespielt werden.

Aber ich möchte wachsam bleiben. Ich möchte mich ehrlich wahrnehmen. So gut es eben geht.


Mit meinem riesigen Balken vor den Augen, der mir oft die Sicht versperrt. Ein Balken aus Unsicherheit, Stolz, fehlender Information, verletztem inneren Kind, kindlicher Lust und manchmal auch ein ganz plastischer Balken: ein Balken aus digitalen Geräten.

Und du?

Woraus besteht dein Balken, der dich die Welt sehen – oder eben nicht richtig sehen lässt?
Was glaubst du, macht die digitale Welt mit unserer Selbst- und Fremdwahrnehmung?

Ich wünsche dir auf jeden Fall, dass du Lust hast, in Kontakt zu treten: mit deinen Splittern und Balken – und mit vielen verschiedenen Menschen aus allen möglichen Bubbles.

Solche Splitter und Spleens haben wir alle. Und oftmals macht das die einzelne Person gerade spannend.

Soviel für heute… Den nächsten Podcast von Carsten hörst du am 20. Juli. Bis dann, mach‘s gut und schau gut zur dir!

Portrait Kathrin Bolt

Kathrin Bolt

Kathrin schreibt und spricht leidenschaftlich gerne. Die 42-Jährige lebt mit ihrer Familie in St.Gallen und arbeitet als Pfarrerin in der evangelisch-reformierten Laurenzenkirche. In ihrer Freizeit spielt sie Theater.